Was fühlen wir, wenn wir in den Spiegel schauen? Im Rahmen des Hamburg International Queer Film Festivals stellt Toni Karat seinen*ihren Film über Narzissmus und Gender vor. Dabei lässt Karat zehn Personen aus der queeren Community einen intimen Blick in den Spiegel werfen.

Foto: Toni Karat

Berlin am Morgen. Vögel krähen. Die Kamera schaut aus einer Dachbodenluke in den blauen Himmel und auf Häuserdächer. Während die Hauptstadt erwacht, bereitet Regisseur*in Toni Karat auf dem staubigen Dachboden das Equipment für den Dreh vor. So beginnt „Narcissism – The Auto-Erotic Images”, den Karat im Alleingang gedreht, vertont, geschnitten und produziert hat – drei Jahre lang fast ohne Budget.

Geplant war dieses Debüt nicht: Ursprünglich wollte Karat 30 Protagonist*innen aus der queeren Szene – viele von ihnen produzieren Pornofilme in Berlin – auf dem Dachboden für einen Fotoband fotografieren. Die Idee für einen Film, in dem zehn von ihnen interviewt werden, kam Karat erst später. 

Wen interessiert schon meine Meinung?”

Über ruhige Synthesizer-Akkorde erzählt Karat aus dem Off, dass er*sie als Regisseur*in eigentlich nicht als Protagonist*in im Film vorkommen wollte. Da waren schließlich genug Aufgaben: die Interviews mit den Protagonist*innen, der Schnitt, der Soundtrack, das Filmen. Außerdem fragte sich Karat: „Wen interessiert schon die Perspektive einer weißen, queeren ü-fünfzig non-binary Lesbe?” Provokant richtet er*sie diese Frage direkt an die Zuschauenden. Karat sitzt auf einem Stuhl auf dem Dachboden. Leicht zurückgelehnt, den Fuß auf dem Knie abgelegt, ernst in die Kamera blickend.

Zu unsicher, zu arrogant?

Frau sitzt auf einem Stuhl
Lexi Dark erzählt von ihrem Selbstverständnis als Sexarbeiterin, Foto: Toni Karat

Der selbstkritische Blick ist ein Motiv, das sich auch in den Interviews mit den Protagonist*innen immer wieder findet. Was empfinden wir beim Blick in den Spiegel? Selbstliebe oder Hass? Wie viel Selbstliebe ist erbaulich und ab wann gilt man als Narzisst*in? Mit dem Filmtitel „Narcissism” scheint Karat zu provozieren. Viele der Protagonist*innen, darunter Sexarbeiter*innen, Journalist*innen und Filmemacher*innen, sind sich einig: Als Narzisst*innen möchten sie sich nicht bezeichnen, erstrebenswert sei eine gesunde Selbstliebe. 

Die Protagonist*innen sprechen vor dem Spiegel über Themen wie Masturbation und Selbstverwirklichung. Karat zeigt Fotos aus ihrer Jugend und Aufnahmen aus dem Fotoband. Das alles erreicht die Zuschauenden filterlos. Karats Film wird zur Lupe, er schafft Nähe. Möglicherweise, weil Karat die meisten porträtierten Personen persönlich kennt. Vielleicht aber auch, weil er*sie als Ein-Mensch-Team eine außergewöhnlich private Atmosphäre auf dem Dachboden schafft und ihn zum Safe Space für Sex-Positivität und Queerness macht.

Und plötzlich ist man unsichtbar

Während die Kamera aus dem kleinen Dachfenster blickt, stellt Karat die Frage, welche Rolle das Geschlecht beim Thema Selbstliebe spielt. Ist Selbstliebe bei männlich gelesenen Menschen akzeptierter, als bei weiblich gelesenen? Karat erzählt aus dem Off von eigenen Erfahrungen, gewährt mittels Fotos Einblicke in die Vergangenheit und erzählt vom eigenen Vorbild: der rebellischen Tante Toni. 

Besonders eindringlich stellt der Film die Frage: Wie beeinflusst Sozialisation und Geschlecht unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung? „Ich bin tatsächlich unsichtbar”, erzählt eine Ü-Fünfzig-Lesbe. In einer patriarchalen Gesellschaft werde sie als ältere lesbische Frau kaum wahrgenommen. Die Unsichtbarkeit im Alltag, aber auch in der Filmbranche, macht Karat eindringlich deutlich.

Mehr Narzissmus, mehr Selbstliebe, mehr Masturbation

„Narcissism” wurde mit mehreren Preisen bei Filmfestivals ausgezeichnet. Vor allem liegt das wohl an den sehr persönlichen Interviews. Das Plädoyer für mehr Selbstliebe und „positiven” Narzissmus könnte abgedroschen wirken – stattdessen ist es berührend zu erleben, wie sich die teils über 50-jährigen, queeren, sex-positiven Protagonist*innen nach Jahren der Selbstzweifel und Diskriminierung nun endlich selbst lieben können. Karats Empathie macht diese Momente erst möglich.

Dramaturgisch gesehen, funktioniert das Material wohl besser als Fotoband. Als Film lässt die Aneinanderreihung von Interviews einen Spannungsbogen vermissen und die Atelierkulisse ist monoton. Inhaltlich reißt „Narcissism” akute Themen an, wie Rassismus, Polizeigewalt oder die Diskriminierung von Lesben in Konzentrationslagern und deren mangelnde Berücksichtigung bei entsprechenden Gedenkstätten. Leider werden diese Themen nur kurz gestreift, ohne den nötigen Raum zu erhalten. 

Toni Karat sitzt vor dem Spiegel
Toni Karat spricht aus dem Off und inszeniert sich selbst vor dem Spiegel, Foto: Toni Karat

Zu viel Selbstliebe ist auch nicht gut

Gerade wegen dieser starken Talking Heads braucht es Karats Präsenz als Protagonist*in eigentlich nicht wirklich. Trotzdem kommt Karat gegen Ende des Films zu dem Schluss, dass „Narcissism” ohne ihn*sie als Protagonist*in nicht funktionieren würde und räumt damit den eigenen Selbstzweifel vom Anfang aus. Dem Film hilft das leider nicht. Auf der handwerklichen Ebene schadet Karats Allgegenwärtigkeit, so positiv sie an anderer Stelle auch sein mag, beim Video- und Audioschnitt: Hier hätten Fachleute wohl professioneller gearbeitet. 

Trotz dieser Schwächen ist „Narcissism” ein überaus wichtiger Beitrag zu mehr Sichtbarkeit von Gruppen, die sonst zu selten gehört werden. Insbesondere von queeren Personen über 50.

Falls ihr neugierig geworden seid: Den Film “Narcissism- The Auto-Erotic Images”  könnt ihr online streamen.

Luca Bradley, Jahrgang 1998, hätte fast Louis geheißen, weil sein Vater Louis Armstrong so liebt, doch seine Mutter legte ihr Veto ein. Luca stammt aus Dormagen, aber mindestens eine Hälfte seines Herzens schlägt für das Geburtsland seines Vaters, England. Er liebt eigentlich jede Art von Musik, außer Schlager und Metal. Luca spielt zwar nicht Trompete wie Louis Armstrong (und nur miserabel Horn), singt aber in einer Big Band und auf Hochzeiten, spielt Gitarre und Klavier. In Düsseldorf studierte er Sozialwissenschaften und startete währenddessen seinen eigenen Musik-Podcast – natürlich über alles außer Metal und Schlager. (Kürzel: luc)

Lena Gaul, Jahrgang 1998, filmt und tanzt auf fremden Hochzeiten: Sie arbeitet seit
ihrem Bachelor-Abschluss in Medien und Kommunikation für eine Hamburger
Hochzeitsagentur. Lena ist in Ingelheim geboren, und obwohl ihre Mutter aus
Thailand stammt, hält sich ihr Fernweh in Grenzen. So zog Lena zwar für ihr
Studium nach Passau, jedoch ohne die Stadt jemals besucht zu haben. Mittlerweile
will sie nicht mehr Hochzeitsplanerin werden, sondern lieber wieder mehr schreiben,
wie bereits in ihrem Praktikum in einer Social-Media-Agentur. Das geht auch ohne zu
verreisen. (Kürzel: len)