Jede sechste Person in Deutschland ist armutsgefährdet – obwohl es ein reiches Land ist. Das ist ein Problem. Arbeitslose, die vom Bürgergeld reich werden, sind dagegen keins. Trotzdem geht es in der Debatte nur darum. Ein Kommentar von Joana Kimmich.
Titelbild: Joana Kimmich
Das Bürgergeld-Gesetz kommt, die Idee des Bürgergelds ist gescheitert. Übrig bleibt ein Upgrade von Hartz IV – die Ampel hat auf Druck der Union nachgegeben. Die Abkehr vom Arbeitslosengeld (ALG) II ist Geschichte. Fördern und Fordern bleibt weiter das Mantra deutscher Sozialpolitik. Die Union ist zufrieden – Menschen in Armut können nicht viel erwarten.
Kompromiss vom Kompromiss vom Kompromiss
Der große Wurf? Eigentlich ist kaum noch etwas übrig vom Bürgergeld. Ein Teil des Bürgergeldes sollte die Abkehr von „Fördern und Fordern“ sein. Das sollte auch weniger Sanktionen bedeuten.
Geldkürzungen, wenn Hartz-IV-Beziehende nicht zu Terminen beim Jobcenter erschienen sind, Jobangebote abgelehnt haben oder keine Bewerbungen nachweisen konnten, wurden in Corona-Zeiten ausgesetzt. Beim Bürgergeld sollte es eine sechsmonatige Übergangsphase geben, in der keine Sanktionen ausgesprochen werden. Das ist vom Tisch. Sanktionen gibt es nun ab dem ersten Tag. Die Union hatte das gefordert und durchgesetzt.
Auch vom Tisch ist beim Bürgergeld die zweijährige Karenzzeit bei der Wohnungsüberprüfung: Geplant war ursprünglich, dass in den ersten beiden Jahren Geld für Wohnen fließen sollte – ohne bürokratische Überprüfung, ob die Wohnung „angemessen“ ist. Die Zeit wurde auf ein Jahr verkürzt – für Menschen, die aufgrund von Krankheit etwa länger arbeitslos sind, kann das dennoch zu wenig sein und zusätzlichen Stress bedeuten. Und was fatal ist: Heizkosten sind von der Karenzzeit ausgenommen und werden von Anfang an auf „Angemessenheit“ überprüft. Was das bedeutet? Das liegt wohl im Auge des Betrachters. Gerade in Zeiten der Energiekrise, wo selbst gut verdienende Menschen Angst vor horrenden Nachzahlungen bei Energiekosten haben, ist das ein fatales Signal.
Außerdem sollte das Bürgergeld verhindern, dass Menschen, die arbeitslos werden, sofort an ihr Erspartes müssen. Zum Beispiel, wenn Selbstständige oder Freiberufler*innen Arbeitslosengeld benötigen. Das sogenannte Schonvermögen gibt es zwar noch. Aber es sind 20.000 Euro weniger als geplant: nur noch 40.000 Euro. Gerade für Freischaffende und Selbstständige ist das nicht viel Geld, weil sie meist von der gesetzlichen Rente ausgenommen sind. Ihr Vermögen haben sie dann oft für die Altersvorsorge auf die hohe Kante gelegt. 40.000 Euro sind plötzlich gar nicht mehr so viel, denn das muss ab Renteneintritt auch für den Rest des Lebens reichen.
Langzeitarbeitslosigkeit ist nicht das Problem in Deutschland
Was die Union, die einzige Partei, die den Entwurf im Bundesrat blockiert hat, verschweigt: Sozialleistungsmissbrauch ist in Deutschland nicht wirklich ein Problem. Die Arbeitslosenquote liegt derzeit bei 5,3 Prozent, in Hamburg bei 6,9 Prozent (Stand: November 2022) und das trotz zwei Jahren Corona-Krise. Ob die Quote repräsentativ ist oder nicht, darüber kann gestritten werden. Deutschland geht es im Hinblick auf Arbeitslosigkeit dennoch nicht schlecht.
5,3 Prozent, das sind rund 2,4 Millionen Menschen ohne Arbeit. Davon sind nach den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit aktuell 877.000 langzeitarbeitslos – Tendenz sinkend. Das ist nur etwa ein Drittel. Und „langzeitarbeitslos“ heißt schon: länger als zwölf Monate ohne Arbeit. Der überwiegende Teil kehrt früher in den Arbeitsmarkt zurück.
Was also ist das Problem? Dass viele Menschen arbeiten und trotzdem arm sind.
Unser größtes Problem: Niedrige Löhne
Das Problem sind also niedrige Löhne. Hierauf müsste die Politik endlich antworten. Und zwar mit einer deutlicheren Erhöhung des Mindestlohns. Denn der Anteil der Menschen, die von Armut gefährdet sind, ist in den vergangenen 15 Jahren fast kontinuierlich gestiegen.
Was bedeutet das konkret? Eine alleinlebende Person ist von Armut gefährdet (Stand: 2021), wenn sie weniger als 1251 Euro im Monat zur Verfügung hat. Vergangenes Jahr war das laut Statista jede sechste Person in Deutschland. Und das, obwohl der allgemeine Wohlstand im selben Zeitraum deutlich gestiegen ist. In Deutschland sind also viele Menschen arm. Und Armut hat auch mit Menschenwürde zu tun.
Aus Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz geht die Menschenwürde als oberstes Leitprinzip hervor. Diese ist Maßstab für die Grundsicherung, die jedem Menschen ein Existenzminimum garantieren soll. Bei der Hartz-IV-Reform muss die Menschenwürde als Maßstab deshalb eine übergeordnete Rolle spielen. Und damit auch das Menschenbild, mit dem eine Gesellschaft auf Bedürftige schaut. Bei Hartz IV war dies oft mit erhobenem Zeigefinger.
Das Bürgergeld wäre die Chance gewesen, arbeitslosen Menschen mehr zuzutrauen und mehr Freiraum zu schaffen. Denn es gibt genug gravierende Probleme – faule Arbeitslose sind es nicht. Das Bürgergeld als großer Wurf ist passé. Ein paar Besserungen machen noch keine Reform.