Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini protestieren die Menschen in Iran für mehr Frauenrechte. Sara solidarisiert sich auf Hamburgs Straße mit den Iraner*innen. Mit FINK.HAMBURG spricht sie über die Proteste und ihre Heimat.
Titelbild: Chiara Bagnoli
Auf dem Gänsemarkt in Hamburg versammeln sich im Oktober viele Menschen, um sich mit den Protestierenden im Iran zu solidarisieren. In einem Redebeitrag wird eine Liste der Opfer der Proteste im Iran vorgelesen. Darunter sind auch Kinder. Vielen Demonstrant*innen laufen die Tränen übers Gesicht und sie nehmen einander in den Arm, um sich zu trösten. Nur kurze Zeit später rufen sie wieder voller Kraft „Jin, Jiyan, Azadî“, was so viel heißt wie “Frauen, Leben, Freiheit”.
Am Rand der Demonstration steht auch Sara* (der Name wurde von der FINK.HAMBURG-Redaktion auf Wunsch geändert) mit einer Freundin und verfolgt das Geschehen. Sie hat ein kleines Schild dabei, ebenfalls mit der Aufschrift „Frauen, Leben, Freiheit“. Sara lebte bis zur Machtergreifung der Mullahs in Teheran. 1980 ging sie zusammen mit ihrem Mann nach Hamburg. Mullah ist der Titel eines islamischen Religions- und Rechtsgelehrten.
Erste Proteste gegen das Regime
1979 kehrte der geistliche Ajatollah Ruhollah Musawi Chomeini zurück nach Iran. Ajatollah ist der höchste religiöse Ehrentitel, der durch allgemeinen Gebrauch in der Öffentlichkeit den bedeutendsten schiitisch Rechtsgelehrten verliehen wird. Chomeini musste ins Exil, weil er öffentlich das damalige Regime kritisiert hatte. Nach dem Sturz des Schahs (Titel des iranischen Herrschers) kehrte er zurück und gründete eine Islamische Republik. In den folgenden Jahren wurde das ganze Land islamisiert. Neben der Justiz und den Medien waren davon auch Schulen und Universitäten sowie das allgemeine öffentliche Leben betroffen.
Sara lebte in dieser Zeit bei ihrer Familie in Teheran, hatte gerade ihr Abitur bestanden und wollte unbedingt studieren. Doch Chomeini schloss die Universitäten im Juni 1980. Sara organisierte sich mit anderen Abiturient*innen aus dem ganzen Land in einer Art Verein, um für die Öffnung der Hochschulen zu protestieren.
Deshalb besetzte die Gruppe der Abiturient*innen die Schulbehörde in Teheran. Sara erzählt, dass das Gebäude von den Behörden mit Tränengas geräumt worden sei. Sie erinnert sich gut daran: „Wir sind alle runter gerannt und ich bin auf der Treppe gestürzt. Die Leute sind einfach über mich drüber gelaufen, weil sie durch das Tränengas nichts mehr sehen konnten. Irgendwann hat mich jemand hochgezogen“, erzählt sie.
Sie habe nur zu Uni gehen wollen. “Das war das erste Mal, dass ich die Brutalität von denen erlebt habe“, sagt sie. Damit meint sie nicht nur die Polizei, sondern auch die Mullahs und die Regierung. „Das hat uns noch wütender und mutiger gemacht.“
Tehran wurde grau
Als Chomeini an die Macht kam, führte er eine strenge islamische Kleiderordnung ein. Vor allem Frauen mussten sich daran halten. Neben der Kopftuchpflicht mussten sie den ganzen Körper bedecken und durften nur gedeckte Farben tragen. Auch Make-up war teilweise verboten. Die Auslegung der Verschleierungsordnung variierte allerdings auch in den vergangenen Jahrzehnten je nach Staatspräsident und gesellschaftlicher Stimmung. Für Sara war das schon damals unverständlich, sie erzählt: „Als ich ein Kind war, hieß es immer: Die Frau ist die Königin des Hauses. Und Chomeini wollte, dass sich diese Frauen bedecken. Er hat uns wie Tiere dargestellt.“
Sie erzählt, sie habe nie ein Kopftuch in Iran getragen – auch nicht nach Chomeinis Kleideranordnung. Sie habe aber auch um die Gefahr gewusst, der sie sich damit aussetzte: „Man hat immer damit gerechnet, dass etwas passiert, dass man geschlagen wird – vor allem, wenn man alleine unterwegs war.“
Bevor Sara nach Hamburg ging, sagt sie, sei sie bei einem der ersten Frauenproteste dabei gewesen. „Auch Männer waren dabei. Sie haben um uns herum eine Menschenkette gebildet und versucht, uns zu beschützen. Keiner konnte uns beschützen“, erinnert sich Sara. Sie sei noch nicht sehr weit gekommen gewesen, als sie in der Ferne Männer mit großen Säbeln sah. „Da mussten wir wirklich abhauen. Die schlachten uns”, erzählt sie. Sie berichtet, dass sie und andere Demonstrant*innen in die Häuser der Anwohner*innen hätten fliehen können, um sich zu schützen.
Das Ende der Freiheit
Sara und ihr Mann gingen im September 1980 nach Deutschland – ohne zu wissen, wie sich die Situation in Iran noch verändern würde. Ihr Mann hatte bereits in der Vergangenheit in Deutschland studiert und wollte wieder zurück, um sein Studium zu beenden. „Mein Vater hat gesagt: Gut, dass du rechtzeitig weggegangen bist‘“, erzählt Sara.
Nur Tage nach der Ausreise der Beiden im Jahr 1980 begann der Iran-Irak-Krieg. Die Proteste wurden kleiner. Sara erzählt: „Es hat sich so schnell entwickelt, dass die Frauen gar keine Zeit hatten. Auch die Männer konnten nicht mehr unterstützen. Es war Krieg und sie wurden eingezogen.“
Der Iran-Irak-Krieg (Erster Golfkrieg) begann am 22. September 1980, als der irakische Diktator Saddam Hussein den Iran angriff. Ursache des Krieges waren territoriale Konflikte, religiöse Spannungen zwischen beiden Staaten und die unterschiedlichen Ideologien. Im August 1988 endete der Krieg. Rund eine Million Menschen starben, darunter viele Zivilisten. Mehr dazu findet sich auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung.
Als Sara in Deutschland war, berichtete ihr ihre Familie, wie sich die Situation in ihrer Heimat verschärfte. Die Kleiderordnung wurde strenger durchgesetzt und die Behörden immer brutaler. „Wer hatte denn da den Mut, über Freiheit oder über das Kopftuch zu sprechen? Mein Vater erzählte mir, dass sich Menschen, die sich nicht an die Regeln hielten, einfach ohne Gericht hingerichtet worden seien”, erklärt Sara. Laut Amnesty International führt die gesetzliche Pflicht zum Tragen des Kopftuchs zu täglichen Schikanen, willkürlichen Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen. Außerdem haben Frauen keinen Zugang zu Bildung, Arbeit oder politischen Ämtern. Häusliche Gewalt, Vergewaltigungen in der Ehe, Kinderehen und “Ehrenmorde” sind straffrei.
Fremd im eigenen Land
„Ich dachte, als wir nach Deutschland gingen, dass ich meine Familie spätestens im nächsten Jahr besuchen würde. Ich habe sie erst sechs Jahre später wiedergesehen. Das war sehr hart“, erinnert sich Sara. Als sie mit ihrem Mann und ihren Kindern das erste Mal wieder in Teheran 1986 zu Besuch waren, hatte sich viel geändert. Chomeini war immer noch als geistliches Oberhaupt an der Macht und der anhaltende Golfkrieg hinterließ nicht nur Spuren bei den Menschen, sondern schwächte das Land auch wirtschaftlich sehr stark.
„Ich wusste nicht mehr, wie der Iran ist”, erzählt sie. Bei ihren Besuchen im Iran trug sie das erste Mal ein Kopftuch: “Es darf nicht ein Haar rausschauen. Teheran war immer so bunt. Und dann haben die Menschen nur noch nur noch Schwarz, Braun und Grau Kleidung getragen”, so Sara. “Einmal habe ich beobachtet, wie ein Mädchen mit Rasierklingen in die Lippen geschnitten wurde, weil sie etwas Lippenstift trug”, erinnert sie sich.
Unter den Staatspräsidenten Ali Akbar Hāschemi Rafsandschāni und Mohammad Chātami lockerte sich die Kleiderordnung in den 90er Jahren langsam: Buntere Farben und kürzere Mäntel waren erlaubt. Die Frauen fingen in dieser Zeit an, ihr Kopftuch lockerer zu tragen, benutzten Lippenstift und ihre Kleidung wurde enger und kürzer.
Sara erzählt auch von Protesten der Frauen, bei denen diese ihr Kopftuch abnahmen. Seit 2014 ist das Ablegen des Hijabs in der Öffentlichkeit eine verbreitete Protestaktion. Im Jahr 2017 wurde die Kampagne “White Wednesday” bekannt, bei der Frauen jeden Mittwoch ein weißes Kopftuch trugen oder es ganz ablegten. Damals verbreitete sich vor allem die Aktion von Vida Movahed. Sie stellte sich 2017 ohne Kopftuch in Teheran auf einen Stromkasten. In der Hand einen Stock, an dem ein weißes Kopftuch hing. Das Bild löste landesweit Proteste aus:
Jin, Jiyan, Azadî: Die Proteste gehen weiter
Für Sara haben die Proteste der Frauen aber schon etwa ab den 90er Jahren vor dem Tod von Jina Mahsa Amini begonnen: „Die Frauen haben angefangen, hellere Farben zu tragen. Alles ganz langsam. Zehn Jahre später kleideten sich die Frauen wieder in buntere Farben und sie haben wieder mehr Haar gezeigt. Da hat die Revolution angefangen.“ Aminis Tod hat trotzdem die Welle der Proteste angestoßen und auch andere Länder auf den Iran aufmerksam gemacht. „Es hat nur noch dieser eine Funke gefehlt“, sagt Sara.
Sara glaubt fest daran, dass der Wandel zurück zu einem weltoffenem und modernen Iran möglich ist – wie sie es noch aus ihrer Jugend kennt. Sie selbst ist, bevor sie 1980 nach Hamburg kam, in Iran auf die Straßen gegangen. „Ich kenne diese Wut. Ich hatte sie selbst. Das Glas ist wirklich voll. Und die Iraner:innen können nicht mehr ruhig bleiben.“ Sie weiß aber auch, wie gefährlich es für die Frauen dort ist, jetzt zu demonstrieren.
Laut der Organisation Iran Human Rights (IHR) starben 326 Menschen während der aktuellen Proteste – darunter 43 Kinder (Stand: November 2022). Dutzende Demonstrant*innen wurden zur Todesstrafe verurteilt. Mindestens neun Demonstrant*innen standen bereits vor Gericht und laufen Gefahr, hingerichtet zu werden. Die tatsächliche Todeszahl wird viel höher geschätzt. Quelle: IHR
Sara hat großen Respekt vor den Protestierenden in Iran: „Was sie alles auf der Straße erleben, in was für eine Gefahr sie sich versetzen. Sie sind mutig. Manche sind noch Kinder, aber sie sagen: ‚Mehr als Tod gibt es ja nicht. Dann werden wir sterben‘.“ Sara glaubt fest daran, dass die Proteste erst enden, wenn sich wirklich etwas ändert: Die Protestierenden werden, ist sie überzeugt, so lange weiter kämpfen, bis sie alle sterben oder alle frei sind. “Deshalb habe ich auch noch Hoffnung.“
Die Demonstrant*innen auf dem Gänsemarkt machen sich nach zwei Stunden auf den Weg und beginnen ihren Demo-Zug durch die Stadt in Richtung Alster. Sara läuft mit. Sie erzählt, dass sie in den nächsten Tagen auch bei Menschenketten dabei sein wird. Sie will weiter protestieren und sich in Hamburg und dem Rest Deutschlands mit den Menschen und Protesten im Iran solidarisieren. “Meine Familie ist froh, dass ich in Deutschland bin. Aber ich wäre viel lieber in Iran und würde gerne dort protestieren.”