Das Bookazine “grenzenlos” zeigt die vielseitigen Lebensrealitäten von BIPoC in Deutschland. FINK.HAMBURG hat mit den Herausgeber*innen Josephine Apraku und Christopher Nixon gesprochen.
Von Linda Proske und Victoria Szabó
Der Kolonialismus wirkt bis heute fort. Vor allem Schwarze Menschen, Indigene und People of Color (kurz BIPoC, siehe Info-Kästen) sind täglich mit den Folgen konfrontiert. Hamburg spielt eine zentrale Rolle in der kolonialen Vergangenheit Deutschlands – thematisiert wurde das bislang allerdings kaum. Die aktuelle Ausstellung „Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand“ im Museum der Arbeit beleuchtet die Industriegeschichte der Hansestadt aus neuen Perspektiven und stößt damit Diskussionen an.
Was heißt BIPoC? BIPoC steht für Black (dt. Schwarz), Indigenous (dt. Indigen), People of Color. Die Begriffe sind politische Selbstbezeichnungen verschiedener Gruppen, die strukturellen Rassismus erfahren. Sie sind aus einem Widerstand entstanden und stehen für den Kampf gegen Unterdrückung und für mehr Gleichberechtigung.
Begleitend zur Ausstellung haben Josephine Apraku und Christopher Nixon das Bookazine „grenzenlos“ herausgegeben. In Essays, Interviews, Gedichten, Collagen und Fotografien geben sie darin BIPoC den Raum, ihre vielfältigen Lebensrealitäten in Deutschland zu zeigen. Die Mischung aus Buch und Magazin richtet sich gezielt an BIPoC und bietet durch den diskriminierungskritischen Ansatz gleichzeitig einen Lernraum für weiße Menschen. Etwa zwölf Wochen hat die Arbeit an dem Bookazine gedauert, das im Oktober letzten Jahres im „Kocmoc“ Verlag erschienen ist.
Apraku ist Afrikawissenschaftlerin und leitet gemeinsame mit Dr. Jule Bönkost das Institut für diskriminierungsfreie Bildung in Berlin. Nixon ist Philosoph und Kurator für koloniale Vergangenheit und postkoloniale Gegenwart bei der Stiftung Historische Museen Hamburg. Mit den FINK.HAMBURG-Redakteurinnen Victoria Szabó und Linda Proske sprechen die beiden über die Gestaltung ihres Bookazines und darüber, worauf das Werk und die Ausstellung abzielen.
FINK.HAMBURG: Wenn man das Cover des Bookazines aufklappt, springt den Leser*innen zuerst ein Gedicht ins Auge. Wieso habt ihr euch dafür entschieden?
Der Begriff „Schwarz“ wird groß, „weiß“, häufig klein und kursiv geschrieben. Mit den Begriffen ist nicht der Hautton einer Person gemeint. Es handelt sich bei „Schwarz“ um eine Selbstbezeichnung, die die politische und gesellschaftliche Positionierung einer Person beschreibt. Schwarze Menschen verbindet unter anderem ihre Rassismuserfahrung. Weiße Menschen hingegen gelten als privilegiert, sie sind nicht von Rassismus betroffen. Mit den Bezeichnungen “Schwarz” und “weiß” will die Antirassismus-Bewegung rassistischer Sprache entgegenwirken.
Josephine Apraku: Wir wollten nicht einfach nur den rein wissenschaftlichen Aspekt von Kolonialismus und dessen Folgen aufgreifen. Aus einer rassismuskritischen Perspektive, die wir beide definitiv einnehmen, war es uns total wichtig aufzuzeigen, dass es nicht diese Trennung zwischen „wissenschaftlich“ und „aktivistisch“ gibt. Oder zwischen emotional und sachlich. Sondern wir wollen diese Dinge verbinden und aufzeigen, dass das alles zusammenhängt, zu jedem Zeitpunkt.
Dafür haben sich die Gedichte insgesamt total geeignet, weil sie tatsächliche Geschichten erzählen und Kritik üben. Und das auf eine sehr künstlerische Art und Weise, die emotionale Bezüge zu den jeweiligen Materialien nochmal anders erlauben.
Christopher Nixon: Künstlerische Interventionen sind gerade für postkoloniale Fragestellungen wichtig, weil sie die Komplexität von Themen so gut bündeln können. Es ist ganz entscheidend, unterschiedliche künstlerische Ausdrucksformen in solchen Zusammenhängen zu verwenden.
Wieso habt ihr euch für den Titel “grenzenlos” entschieden und welche Rolle spielte dabei die Autorin und Aktivistin May Ayim mit ihrem Gedicht „grenzenlos und unverschämt“?
Apraku: Wir wussten schon länger, dass wir das Gedicht mit einbeziehen wollen. Der Ausstellungstitel „Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand“ war zu dem Zeitpunkt schon bekannt, und wir kennen natürlich auch May Ayim und die Arbeit, die sie als Schwarze Deutsche geleistet hat. Sie hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass es überhaupt Selbstbezeichnungen für Schwarze Menschen in Deutschland gibt.
Nixon: In einer Installation am Ende der Ausstellung haben wir rassistische Äußerungen in den Texten des Philosophen Immanuel Kant genommen und sie mit diesem Gedicht von May Ayim überschrieben. Wir haben dadurch die kolonialen Herrschaftsstrukturen umgekehrt.
Uns ging es bei dem Titel auch darum, Assoziationen bei den Besucher*innen zu wecken, was denn alles “grenzenlos” war: Der Kolonialismus war grenzenlos, die Gewalt im Kolonialismus war grenzenlos. Und auch über die Zeit hinweg wirkt der Kolonialismus grenzenlos fort.
Wer war May Ayim? Ayim wurde 1960 in Hamburg geboren und nahm sich 1996 in Berlin das Leben. Die Wissenschaftlerin, Autorin, Aktivistin und prominente Vertreterin der Schwarzen Bewegung in Deutschland beschrieb rassistische Phänomene, die vom deutschen Kolonialismus bis heute andauern. Mit ihren Werken trug sie zu einer stärkeren Sichtbarkeit Schwarzer Menschen in Deutschland bei. In Anlehnung an den englischen Begriff „Afro-American“ entwickelte Ayim 1986 im Austausch mit anderen Schwarzen deutschen Frauen auch die Selbstbezeichnung „Afrodeutsch“.
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Ihr wolltet keinen klassischen Ausstellungskatalog produzieren. Wieso habt ihr euch für das Format eines Bookazines entschieden?
Apraku: Wir wollten Aspekte der Ausstellung aufgreifen und trotzdem darüber hinaus reichen. Das heißt, wir wollten ein Höchstmaß an Hybridität schaffen. Es sollte kein wissenschaftlicher oder klassischer Museumsband sein, sondern etwas Zugängliches, was Leute gern in die Hand nehmen.
Uns war außerdem sehr wichtig, dass wir ein besonders schönes Endresultat haben, also ein schönes Bookazine. Genauso wie Widerstand nämlich auch ist – total kreativ und dadurch auch sehr ästhetisch.
Nixon: Normalerweise sind Ausstellungskataloge immer eine Art Beiwerk zu einer Ausstellung und das wollten wir von Anfang an nicht. Wir haben jetzt etwa 30 unterschiedliche BIPoC-Perspektiven im Bookazine – das konnten wir in der Ausstellung so nicht leisten.
Es ist ein ganz großes Problem von Mehrheitsgesellschaften, dass sie aus marginalisierten Gruppen homogene Gruppen machen, auf die sie dann blicken. Aber diese Gruppen sind natürlich in sich plural. Und um diese Sichtbarmachung von Pluralität ging es uns im Bookazine.
Im Bookazine sind auch sehr vielseitige Fotografien zu sehen. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit den Fotograf*innen und ihren unterschiedlichen Herangehensweisen?
Apraku: Wir haben einen Open Call gestartet. Wir wollten Leuten einen Raum anbieten, die versuchen, einen Fuß in die Tür zu kriegen oder die einfach gerne fotografieren.
Nixon: Die Fotos haben das Bookazine ganz stark geprägt, und es am Ende sicher auch nochmal verändert. Wir haben tolle Arbeiten zugeschickt bekommen. Wir saßen stundenlang zusammen und haben über jedes einzelne Bild diskutiert. Ich habe die Arbeit als äußerst bestärkend empfunden, weil man einen direkten Abdruck der Kreativität bekommen hat, die es in den Communities gibt. Und auch davon, wie schade es ist, dass solche Foren der Selbstpräsentation so selten sind.
Ein Bookazine wie „grenzenlos“ gab es ja in dieser Form bislang noch gar nicht. Welche Zielgruppe wollt ihr ansprechen?
Apraku: Uns war wichtig, dass wir uns inhaltlich nicht ausschließlich an weiße Menschen richten. In aller Regel soll weißen Menschen erklärt werden, wie Rassismus funktioniert. Genau das wollten wir nicht machen.
Wir wollten einerseits den Raum kreieren, in dem BIPoC zu Wort kommen und ihre Perspektiven auf unterschiedliche Art und Weise einbringen können. Gleichzeitig haben wir uns damit natürlich BIPoC als explizite Zielgruppe vorgestellt. Wir haben uns gefragt, was wir selbst gerne für ein Material in der Hand hätten. Oder was würde meine Teenager-Schwester sich gerne anschauen? Das bedeutet nicht, dass wenn wir über Empowerment gehen, es sich nur an BIPoC richtet. Natürlich können weiße Menschen auch was daraus mitnehmen über die Erzählungen, die ja teilweise sehr alltäglich sind.
“Was wir eben nicht gemacht haben, ist eine Komfortzone für weiße Menschen zu schaffen”
Ihr habt euch entschieden, im Bookazine und in der Ausstellung Bilder aus der Kolonialzeit nicht in Gänze zu zeigen. Stattdessen habt ihr bestimmte Bildelemente geschwärzt oder voneinander getrennt. Warum?
Nixon: Das ist ein Thema, mit dem ich mich sehr viel beschäftige: in welchen Fotos sich BIPoC immer wieder begegnen und widergespiegelt sehen. Wir kennen das aus dem US-amerikanischen, aber auch aus dem deutschen Kontext – das sind Fotos, in denen Gewalt an Schwarzen Körpern verübt wird, in denen Schwarze Körper rassifiziert und exotisiert werden. Das sind die Bilder, mit denen BIPoC aufwachsen und sich identifizieren. Deswegen war es uns an der Stelle besonders wichtig, andere Bildregime aufzuzeigen, die die rassistischen Darstellungen, die einen kolonialen Ursprung haben, gerade nicht reproduzieren.
Generell werden Bilder und historische Ereignisse oft aus der Perspektive weißer Menschen dargestellt. Inwiefern habt ihr diesen Ansatz im Bookazine und der Ausstellung umgedreht?
Nixon: Was wir eben nicht gemacht haben, ist eine Komfortzone für weiße Menschen zu schaffen. Es wird immer aus der Perspektive weißer Menschen beantwortet, welche Bilder gezeigt oder nicht gezeigt werden sollen. Das wird dann zum Maßstab gemacht – und das haben wir an der Stelle einfach umgedreht. Das meinen wir mit Perspektivwechsel in der Ausstellung und im Bookazine: Jetzt setzen die Perspektiven von BIPoC den Standard.
Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle musste Apraku das Interview etwas früher verlassen.
Die Ausstellung „Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand” beleuchtet die koloniale Vergangenheit Hamburgs auf ungewohnte Art und Weise. Worauf lag der Fokus?
Nixon: Wir wollten den Fokus auf die Industrie lenken. Das Museum der Arbeit, in dem die Ausstellung ist, war früher die New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie. Das heißt, genau dort ist auch Kautschuk aus Brasilien, Indonesien und Afrika verarbeitet worden, aus europäischen und deutschen Kolonien. Uns ging es also vor allem um eine Aufarbeitung der kolonialen Industrie – darum, die Industrie in Hamburg im 19. und 20. Jahrhundert als Teil einer kolonialen Gewaltgeschichte zu lesen, die bis heute nachwirkt.
“Wo kommt denn eigentlich der ganze Reichtum her? Wer hat ihn erwirtschaftet?”
Woran könnte es liegen, dass die Kolonialgeschichte in Deutschland und speziell in Hamburg noch immer schlecht aufgearbeitet ist?
Nixon: Ich glaube zum einen, dass sich eine Art verharmlosender Mythos um die deutsche Kolonialzeit verfestigt hat. Wir zeigen in der Ausstellung, dass es trotz der, im Verhältnis zu anderen Kolonialmächten, kurzen Zeit, in der das Deutsche Reich Kolonien hatte, genau dieselben Formen von Gewalt und Ausbeutung gab wie auch in anderen europäischen Kolonien.
Und natürlich gibt es, auf Hamburg bezogen, ein bestimmtes bürgerliches Selbstverständnis der Stadt, das da angekratzt wird. Also wenn man mal fragt: Wo kommt denn eigentlich der ganze Reichtum her? Wer hat ihn erwirtschaftet? Darauf möchten viele Hamburger*innen keine Antwort geben. Wir wollten das bürgerliche und beschönigende Kaufmannsnarrativ in Hamburg dekonstruieren und zeigen, wo und unter welchen Bedingungen die Rohstoffe produziert worden sind, mit denen man in Hamburg das Geld gemacht hat.
Die Ausstellung und das Bookazine sind ja nur ein erster Schritt in der Aufarbeitung der Kolonialzeit. Das Thema ist noch viel breiter und die Folgen wirken bis heute nach: Stichwort Rassismus. Wird das in unserer Gesellschaft ausreichend diskutiert?
Nixon: Vor allem im letzten Jahr haben wir sehr viele Diskussionen durch die Ermordung George Floyds erlebt. Aber wir sind trotz einer offensichtlich breiten Debatte nicht wirklich weitergekommen. Das Problem des strukturellen Rassismus in der Polizei sind wir zum Beispiel überhaupt nicht angegangen. Oder: Wo zeigt sich struktureller Rassismus in Deutschland? Welche Formen von Ausgrenzung und Diskriminierung gibt es? Wie lassen sich öffentliche Institutionen diversifizieren?
Strukturell ändert sich trotz der – sehr alten – Diskurse wenig. Das stimmt mich manchmal pessimistisch. Aber ich würde das alles nicht machen, wenn ich nicht hoffen würde, dass sich bei einzelnen Besucher*innen der Ausstellung oder bei Leser*innen des Bookazines Veränderungen und neue selbstkritische Denkprozesse einstellen.
Die Ausstellung „Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand“ im Museum der Arbeit ist derzeit coronabedingt geschlossen. Sie wurde nun bis zum 18.07.2021 verlängert.
Titelbild: Helena Melikov