Helikopter kreisen über Hamburg, schwarzer Rauch steigt auf, Vermummte randalieren in der Stadt. Auch fünf Monate nach G20 hat wohl kaum jemand diese Bilder vergessen. FINK.HAMBURG über die Nachbeben des Gipfels.
Prozesse gegen Randalierer und deutschlandweite Razzien in der linken Szene: Das sind die dominantesten Aspekte der aktuellen G20-Aufarbeitung. Die Drahtzieher der Ausschreitungen und Angriffe auf Polizisten sollen ausgemacht werden. Vom Versagen der Politik und Gewalt aufseiten der Polizei ist deutlich weniger die Rede. FINK.HAMBURG hat den Stand der Aufarbeitung zusammengefasst.
Polizeigewalt gab es – nur nicht auf dem Papier.
Brennende Autos in Altona, lodernde Barrikaden und Plünderungen in der Schanze: Die Bilder des G20-Gipfels in Hamburg gingen um die Welt. Während des G20-Wochenendes Anfang Juli wurden dem Bayerischen Innenministerium zufolge 476 Polizisten verletzt. Oftmals wurden sie von Demonstranten mit Flaschen und Steinen beworfen.
Doch auch auf der anderen Seite gab es Gewalt. Bereits während des Gipfels kursierten zahlreiche Fotos und Videos von Demonstranten, die durch den Einsatz von Wasserwerfern, Pfefferspray oder Schlagstöcken zu Schaden gekommen sind. Dennoch sagte Hamburgs Oberbürgermeister Olaf Scholz (SPD) kurz nach dem Gipfel: “Polizeigewalt hat es nicht gegeben.”
Über diese Aussage kann Karolina Käfer nur den Kopf schütteln. FINK.HAMBURG hat die 27-Jährige vor der Welcome-to-hell-Demonstration am Donnerstag vor dem Gipfel getroffen. Im Nachhinein beschreibt sie die Ereignisse auf den Straßen als ein “erschütterndes und traumatisierendes Ereignis”: ”Schlagstock- und Pfeffersprayeinsätze seitens der Polizei, von denen ich manche hautnah miterlebt habe, teilweise ohne Vorwarnung, haben meines Erachtens entscheidend zur Eskalation beigetragen. So etwas darf in einem demokratischen Land nicht passieren“, sagt sie.
Zahlen und Maßnahmen
Insgesamt wurden laut Generalstaatsanwaltschaft Hamburg 109 Ermittlungsverfahren gegen 166 Polizeibeamte eingeleitet. “Drei Viertel dieser Ermittlungen beziehen sich auf Körperverletzung. Bei vielen Fällen ist es jedoch schwierig, einen konkreten Beamten zu benennen“, so Stefan Endter, Rechtsanwalt und Geschäftsführer des Deutschen Journalisten Verbandes (DJV) Hamburg. Zwei Verfahren wurden bereits aus Mangel an Beweisen eingestellt (§ 170 Abs. 2 StPO).
Die Ermittlungen werden durch das Dezernat für interne Ermittlungen (D.I.E.) der Polizei geführt. Dieses hat die Aufgabe, unabhängig gegen die Polizei zu ermitteln. “Diese Einheit ist eigenständig genug, um die Vorwürfe zu prüfen, und hat in Hamburg Tradition”, sagt Endter. Deshalb solle jeder, der Polizeigewalt erfahren hat, Anzeige direkt bei dem D.I.E. einreichen anstatt bei der Polizei selbst.
Nach wie vor weiß niemand genau, wie viele Demonstranten und Unbeteiligte während der Gipfel-Tage in Hamburg zu Schaden gekommen sind. Weder Krankenhäuser, die Stadt, noch die Polizei haben Daten erhoben. Dieses Problem kritisiert auch der Hamburger Filmemacher Rasmus Gerlach in seiner Doku “Der Gipfel: Performing G20”. Der Regisseur war, nach eigener Aussage, während der Dreharbeiten am Rande einer Demonstration derart grob von einem Polizisten zur Seite gestoßen worden, dass er sich eine Rippe brach. Nirgendwo konnte er melden, wie seine Verletzung zustande kam.
Eingriffe in die Pressefreiheit
Über alle Gipfeltage hinweg wurden Journalisten an ihrer Arbeit gehindert. Auch ein Redakteur von FINK.HAMBURG wurde nach der Welcome-to-hell-Demonstration mit einem Flaschenwerfer verwechselt und von mehreren Polizisten aus einem Imbiss auf St. Pauli gezerrt. Doch die Einschränkungen der Berichterstattungen begannen bereits einige Tage zuvor: Über 30 Journalisten wurde kurz vor Gipfelbeginn die Akkreditierung entzogen.
Grund soll eine Pannenserie bei der Datenweitergabe zwischen Polizei und Bundeskriminalamt (BKA) sein. Ein Journalist tauchte fälschlicherweise in einer BKA-Datei als ein “Mitglied einer gewaltsamen Gruppierung” auf. Dabei hatte der betroffene Journalist in der Vergangenheit lediglich von einer 1.-Mai-Demo berichtet. Die Polizei meldete auf Anfrage des Landesamtes für Verfassungsschutz jedoch, dass dieser festgenommen worden sei. Diese Meldung ging wiederum an das BKA, das den Journalisten fortan zu den gewalttätigen Demonstranten zählte. Dementsprechend wurde er als gefährlich eingestuft, und seine Daten auf der “schwarzen Liste” gespeichert.
Endter sieht in diesem Vorfall einen starken Eingriff in die Pressefreiheit: “Hier sind grundrechtsrelevante Verstöße geschehen”, sagt er. Ihm zufolge wurden Falschmeldungen verbreitet und Daten rechtswidrig weitergegeben. Die Polizei sei damit ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden, so Endter.
Die Polizei will Strukturen ändern
Im Hinblick auf diesen konkreten Fall hatte der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall dem Hamburger Polizeisprecher Timo Zill einen Brief geschrieben mit der Bitte um Erklärung. “Wir haben dann über längere Zeit bedauerlicherweise keine Reaktion der Polizei erhalten. Das hat auch die Mitgliederversammlung des DJV beschäftigt”, so Endter.
Im September kam es schließlich zu einem längeren Gespräch zwischen dem DJV Hamburg und der Polizei. “Es war ein offenes, konstruktives Gespräch, in dem konkrete Einzelfälle und Probleme im System angesprochen wurden”, erzählt Endter. Polizeipräsident Ralf Martin Meyer wolle zukünftig die Struktur innerhalb der Polizei so weit verändern, dass bei Auskunftsersuchen jedes Vorgehen von einem Datenschutzbeauftragten geprüft werden müsse.
Die Prozesse
Laut dem Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG) wurde während des G20-Gipfels gegen 51 Festgenommene Haftbefehl erlassen. Insgesamt haben bereits 27 Hauptverhandlungen wegen Tatvorwürfen im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel stattgefunden. Diese führten in fünf Fällen zu nicht rechtskräftigen Verurteilungen zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung und in 19 Fällen zu Bewährungsstrafen oder Sanktionen nach dem Jugendgerichtsgesetz. In drei Verfahren dauern die Hauptverhandlungen noch an.
Insgesamt werden laut Staatsanwaltschaft aktuell Verfahren gegen insgesamt 408 Beschuldigte geführt. 227 Verfahren laufen gegen unbekannt.
Galerie: die zehn ersten G20-Prozesse
Der Auftaktprozess im August endete mit einem Exempel: Ein 21-jähriger Niederländer wurde zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt. Der junge Mann war nicht vorbestraft, verzichtete jedoch auf eine Aussage. Dieses Warnsignal saß offenbar. Bei vielen darauffolgenden Prozessen gab es ausgiebige Geständnisse und Reuebekundungen vor den Richtern.
Die weiteren Urteile umfassten dann größtenteils Bewährungsstrafen, obwohl die Straftaten von Außen nicht minder schwer erscheinen. Rechtsanwalt Stefan Endter hält die “Generalprävention” des ersten Urteils angesichts der massiven Ausschreitungen, bei der Polizeibeamte verletzt wurden, für eine verständliche Vorgehensweise: “Ich persönlich denke, dass Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit auch dementsprechend spürbar geahndet werden müssen.”
Klangkünstler Sven Meyer sieht das anders. Er hatte während der Gipfeltage versucht, durch seine Klangperformance “positive Schwingungen zu verbreiten” und empfindet die aktuellen Verhandlungen als “reine Schauprozesse”. Für ihn sind die Angeklagten “Bauernopfer”: “Es ist ein peinliches Ablenkungsmanöver für eine verfehlte Politik”, sagt Meyer.
Der Fall Fabio V.
Auch das aktuell kontroverseste Verfahren ist hochumstritten: Angeklagter ist Fabio V., ein 18-jähriger Italiener. Er ist zu einer Art Symbolfigur für die G20-Prozesse geworden. Bis Ende November saß Fabio V. in Untersuchungshaft. Fünf Monate Gefängnis, für die reine Beteiligung an einer Demonstration. Laut dem zuständigen Richter des Hanseatischen Oberlandesgerichtes (OLG), sei wegen der Teilnahme an “schweren Ausschreitungen” eine frühere Entlassung nicht möglich gewesen.
Mitgefangen, mitgehangen?
Die genaue Anklage gegen Fabio V. lautet: Landfriedensbruch, versuchte schwere Körperverletzung und tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte. Wirklich angegriffen soll er aber niemanden haben, das sieht auch die Anklage so.
Laut Staatsanwaltschaft soll sich der junge Dolomite am frühen Morgen des 7. Juli 2017 gemeinsam mit 150 bis 200 “einheitlich schwarz gekleideten und vermummten Personen” im Hamburger Volkspark versammelt haben. Die Gruppe soll im benachbarten Rondenbarg eine Hundertschaft der Bundespolizei mit Steinen und “pyrotechnischen Gegenständen” angegriffen haben. Obwohl Fabio V. keine Flaschen geworfen haben soll, sieht die Anklage eine “gemeinschaftliche Tat”. Der Angeklagte, so die Begründung der Staatsanwaltschaft, soll genau gewusst haben, wem er sich anschloss. “Mitgefangen, mitgehangen”?
Trotz des für Außenstehende verhältnismäßig minderschweren Vergehens, verfügten zuerst die zuständige Richterin am Amtsgericht Altona, und anschließend das OLG erst Mitte November die vorläufige Freilassung Fabio V.’s aus der Untersuchungshaft.
10.000 Euro Kaution nach fünf Monaten U-Haft
Der Beschluss ging aus einem monatelangem Tauziehen zwischen der Verteidigung und den Gerichten hervor und wurde an eine Kaution von 10.000 Euro gebunden. Dazu wurde Fabio V. verpflichtet, in die Wohnung zu ziehen, die seine Mutter für die Zeit des Verfahrens in Hamburg bezogen hatte. Seine Mutter stand bereits vor der Haftanstalt, als ihr Fabio V. am Telefon mitteilte, dass die Staatsanwaltschaft die Freilassung in letzter Sekunde gestoppt hatte. Wegen “dringender Fluchtgefahr” hieß es.
Ende November wurde endlich der Freilassung auf Kaution stattgegeben. Fabio V. durfte den Gerichtssaal als vorerst freier Mensch verlassen. Im Gerichtssaal jubelten die vielen Sympathisanten, die den Prozess von Anfang an begleitet hatten. Dies gibt einen Hinweis auf das Stimmungsbild über den Umgang mit dem Angeklagten. Dieses spiegelte sich auch im Netz wider, wo Vergleiche mit der Türkei gezogen wurden – manche, aber durchaus nicht alle in satirischer Absicht. Der Prozess wird sich noch bis in den Februar nächsten Jahres ziehen.
#freeFabio pic.twitter.com/Yp2typCaM6
— Dr. Andreas Hüttl (@Dr_Huettl) 17. November 2017 align=”left”
Zweierlei Maß?
Für Kritik sorgte auch die Spruchpraxis des gleichen Gerichtes in ganz anderen Fällen: Sechs Spitzenkräfte der HSH-Nordbank waren dort, unter Vorsitz des gleichen Richters, wegen schwerer Untreue und Bilanzfälschung angeklagt. Die HSH-Nordbank hat den Ländern Hamburg und Schleswig-Holstein bis heute mehr als 17 Milliarden Euro Schulden hinterlassen. Laut “taz” sprach Marc Tully im Sommer 2014 die sechs Manager der Bank frei.
Fabio V.’s Fall beschäftigt mittlerweile mehrere Menschenrechtsorganisationen, wie zum Beispiel Amnesty International. Auch Beobachter des italienischen Konsulats sowie der “Europäischen Vereinigung von Juristen für Demokratie und Menschenrechte” (ELDH) sitzen bei den Verhandlungen mit im Saal. Die Organisation Rote Hilfe e.V., die politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum unterstützt, hat eine Übersicht des Verfahrens erstellt.
Verdächtige sollen DNA-Proben abgeben
Während Fabio V.’s Prozess ein Symbolbild für die juristische G20-Aufarbeitung geworden ist, bleiben auch die polizeilichen Ermittlungen umstritten. Zum Beispiel wurden bei den G20-Prozessen vereinzelt DNA-Proben von den Angeklagten entnommen.
Eine DNA-Entnahme kann laut Strafprozessordnung bei verhältnismäßig schweren Straftaten veranlasst werden. Bei zukünftigen Straftaten kann so der Täter leichter ermittelt werden. Bei angeordneten DNA-Entnahmen kam es während der Prozesse im Gerichtssaal teilweise zu Buhrufen.
Widerstand von links
Auch die Rote Hilfe e.V. wehrt sich gegen die angeordneten DNA-Proben. In einer Stellungnahme gegenüber FINK.HAMBURG heißt es: “Grundsätzlich raten wir davon ab, DNA-Proben freiwillig – also nur auf Bitten der Polizei und ohne richterliche Anordnung – abzugeben. Denn die daraus gewonnen Daten werden von der Polizei in der DAD-Datei des BKA und teilweise auch beim zuständigen Landeskriminalamt (LKA) gespeichert. Auch dann, wenn der Betroffene keiner Straftat überführt werden kann.”
Die Geschehnisse rund um den Gipfel werden Polizei und Justiz noch mindestens mehrere Monate beschäftigen. Zudem müssen viele Beamte Zwangsurlaub nehmen, um die zahlreichen Überstunden abzuarbeiten.
Dadurch sei die Polizeiarbeit in der Stadt nach wie vor eingeschränkt. Der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Dennis Gladiator, sagte einen Tag vor dem G20-Sonderausschuss Anfang November, die Polizei sei am Limit, und Innensenator Andy Grote (SPD) habe die Lage nicht im Griff. Diese Behauptungen wies Grote entschieden zurück und nannte sie laut NDR einen Versuch, aus der Belastungssituation politisches Kapital zu schlagen.
Großrazzien gegen Verdächtige
Knapp ein halbes Jahr nach dem Gipfel startete die Sonderkommission “Schwarzer Block” deutschlandweit Razzien gegen Verdächtige. Bei den Razzien sollen Belege für strafbare Handlungen zu den G20-Krawallen und weitere Informationen zu deren Vorbereitung gefunden werden. Nach Angaben der Polizei Hamburg waren von den Razzien 25 Objekte in Hamburg, Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Baden Württemberg, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen betroffen. Ziel des Einsatzes sei es gewesen, Beweise zum Vorfall vom 7. Juli am Rondenbarg in Hamburg-Bahrenfeld zu sichern.
Der Einsatz, um den sich auch der Fall Fabio V. dreht, war öffentlich in die Kritik geraten, da die Darstellung der Polizei Hamburg von einem Video eines Einsatzwagen abweicht. Dort ist zu sehen, wie Vermummte einige wenige Böller auf die Straße werfen. Die Polizei löste die Versammlung daraufhin auf und setzte Wasserwerfer ein. Dabei wurden mehrere Personen schwer verletzt. Die Polizei hatte weit massivere Angriffe als Grund für den Wasserwerfereinsatz angegeben.
Noch ein großes Stück Arbeit
Ein halbes Jahr nach G20 ist die Aufarbeiten der Geschehnisse noch nicht ansatzweise am Ziel angekommen. Ermittlungen und Medienberichte konzentrieren sich größtenteils auf die Beteiligten an Ausschreitungen, aktuell auf Fabio V.. Die Gewalt aufseiten der Polizei dagegen wird derzeit nicht für die Öffentlichkeit transparent aufgearbeitet. Während bei den Prozessen gegen die Randalierer Bildmaterial gesichtet wird und DNA-Proben entnommen werden, scheint Bildmaterial, das Gewalt von Beamten zeigt, kaum mehr ein Thema.
Die Stadt, ihre Bewohner und ihre Behörden werden wohl noch einige Zeit mit der tatsächlichen Aufarbeitung des Gipfels beschäftigt sein.