Der Film “Little Tickles” behandelt tragikomisch den sexuellen Missbrauch an Kindern. Hauptdarstellerin Andréa Bescond ist selbst betroffen und verarbeitet in ihrem Regiedebüt ihre Erlebnisse – teilweise mit erstaunlich leichtem Ton.
Die achtjährige Odette sitzt auf dem dunkelblauen Teppichboden ihres pastellfarbenen Kinderzimmers und malt. Gilbert, ein Freund ihrer Eltern, kommt herein. “Ich wollte dich etwas fragen, aber ich traue mich nicht”, sagt er. “Doch, frag”, antwortet die kleine Odette. “Möchtest du mit mir Puppe spielen?”, Gilbert lächelt. Er möchte, dass sie die Puppe und er das Mädchen ist. Er will sie anziehen, ihre Haare kämmen. Dann schließt er hinter sich und der jungen Odette die Tür zum Badezimmer – und mehr braucht es nicht, um zu erahnen, was dort passieren wird.
Die Hauptdarstellerin Andréa Bescond, die auch Co-Regie geführt hat, verarbeitet im Film “Little Tickles” den sexuellen Missbrauch, den sie selbst als Kind erleben musste. Um die Handlung nicht nur auf sich selbst zu beziehen, schafft Bescond das Alter Ego “Odette”. Trotzdem teilt sie viele persönliche Erinnerungen mit den Zuschauerinnen und Zuschauern, vor allem in den Gesprächen, die Odette als Erwachsene mit ihrer Therapeutin führt. Dabei verschwimmen Realität und Wunschvorstellungen darüber, wie Situationen hätten verlaufen können.
Zwischen Vergangenheit und Fantasie
Der Sprung zwischen Zeitsträngen, Erinnerungen und Fantasien gibt dem Film Geschwindigkeit – und macht die teils beklemmenden Situationen erträglich. Immer wieder erfährt das Publikum durch die Therapiesitzungen ein Gefühl von Katharsis. Diese Sitzungen helfen nicht nur Odette, den Missbrauch zu verarbeiten.
Für die Therapeutin ist es das erste Mal, dass sie ein Opfer sexuellen Missbrauchs behandelt. Die Gespräche fallen ihr sichtlich schwer. Das führt zu emotionalen und manchmal skurrilen Dialogen: Odette beschreibt, wie Gilbert sich an ihr vergangen hat. Zweimal fragt sie die erschütterte Therapeutin, ob es ihr gut gehe. Die findet ihre Fassung wieder, als ihre Patientin fragt: “Warum hat er weitergemacht? Er hat doch gemerkt, dass es mir nicht gefällt.” “Das ist Vergewaltigung, Odette”, sagt sie.
“Ich rede nicht viel, weißt du – ich tanze”
So wie die Filmfigur hat auch Darstellerin Andréa Bescond die Erlebnisse ihrer Kindheit im Tanz verarbeitet, Gefühle in Bewegungen übersetzt. Meist tanzt sie auf einer dunklen Bühne und erinnert damit an die Vorlage für den Film “Little Tickles”: Andréa Bescond und ihr Partner und Kollege Eric Métayer brachten im Jahr 2014 die Inszenierung „Les Chatouilles (ou la danse de la colère)”, was übersetzt “Kleine Kitzeleien – oder der Tanz der Wut” heißt, auf die Bühne.
Ein Produzent ermutigte das Paar nach einer der Vorstellungen im Theater, einen Film aus dem Stück zu machen. Bescond und Métayer führten Regie. Nur 15 Tage, nachdem “Little Tickles” fertiggestellt war, feierte das Drama bereits Premiere in Cannes und war auf mehreren Filmfestivals für Preise nominiert. Beim Filmfest Hamburg erhielt “Little Tickles” den mit 5.000 Euro dotierten NDR Nachwuchspreis. “Eine kraftvolle Story mit außergewöhnlicher Regie, die Mut beweist und es schafft, uns auf eine tragikomische Reise mitzunehmen, ohne ins Kitschige abzurutschen”, so die Jurybegründung.
Pro Schulklasse seien ein bis zwei Kinder betroffen
Hilfe bei sexueller Gewalt
In Hamburg bieten verschiedene Beratungsstellen Hilfe bei sexuellem Missbrauch an. Das sind unter anderem:
Kinder- und Jugendnotdienst
Tel.: 040 / 42 84 90Opferhilfe Hamburg e.V.
Tel.: 040 / 38 19 93Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen
Tel.: 040 / 25 55 66Dunkelziffer e.V.
Tel.: 040 / 42 10 700 10
Die Geschichte von Odette, von Andréa Bescond, teilen auch in Deutschland tausende Kinder und Jugendliche. Weil nur wenige Taten angezeigt werden, sind kaum belastbare Zahlen zu sexuellem Kindesmissbrauch vorhanden. Johannes-Wilhelm Rörig, der unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, schätzt, dass eine Million Mädchen und Jungen in Deutschland sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben. Folglich sei pro Schulklasse von ein bis zwei betroffenen Kindern auszugehen.
Der Film sensibilisiert für das Thema – vor allem aber für die Signale und Hilferufe, die Odettes Eltern nicht erkennen. Wie in “Little Tickles” kommen die Täter häufig aus dem näheren sozialen Umfeld der Kinder und Jugendlichen, teils sind es Familienmitglieder. Auch deshalb schweigen Betroffene oft jahrelang. Das Schweigen zu beenden, ist ein zentrales Anliegen von Regisseurin Andréa Bescond. Auch die Therapeutin im Film sagt: “Sie müssen es Ihren Eltern sagen, es der Welt erzählen. Nur so wird es Ihnen besser gehen.”
Der Film “Little Tickles” feierte beim Filmfest Hamburg seine Deutschlandpremiere. Das Regie-Debüt von Andréa Bescond und Eric Métayer erhielt den mit 5.000 Euro dotierten NDR Nachwuchspreis.