Der Bertini-Preis für junge Menschen mit Zivilcourage wird traditionell am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus verliehen. Am Montag erhielten vier Schulklassen die Auszeichnung.
Am 27. Januar vor einem Dreivierteljahrhundert befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Sie schauten dem “Horror ins Auge”, sagte Kirsten Fehrs, Bischöfin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland bei der Verleihung des Bertini-Preises am Montag. Er ist dotiert mit insgesamt 10.000 Euro.
Zum ersten Mal wurde der Bertini-Preis für junge Menschen mit Zivilcourage vor 22 Jahren am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus verliehen. “75 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz gibt es in Deutschland Hoffnung und Frieden”, so Fehrs. Gewalt gegen Juden gibt es aber nach wie vor, das zeigte der Anschlag eines Neo-Nazis auf eine Synagoge in Halle vom Juni 2019. Bischöfin Fehrs erinnerte daran und betonte, wie wichtig Engagement gegen Fremdenhass heute sei.
Vier Schulklassen ausgezeichnet
Vier Schulklassen aus Harvestehude, Neugraben-Fischbek, Bergedorf und Wilhelmsburg erhielten am Montag im Ernst Deutsch Theater in Uhlenhorst den Bertini-Preis für sehr unterschiedliche Projekte, die per Kurzfilm präsentiert und von einem*r Laudator*in gelobt wurden. Sie setzen sich ein für Zusammenhalt, Inklusion und engagieren sich gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt.
Bertini-Preis erinnert an Ralph Giordano
Der Preis steht laut Fehrs für die Grundrechte aller Menschen, ungeachtet der Religionszugehörigkeit, Herkunft oder sexuellen Orientierung. Zur Bewerbung aufgerufen sind junge Schüler*innen oder Studierende bis 27 Jahre. Benannt ist er nach Ralph Giordanos teils autobiographischen Roman “Bertini”. Der handelt davon, wie Giordanos Familie knapp dem Tod in Auschwitz entkam. Giordano setzte sich bis zu seinem Tod 2014 für die Erinnerung ein.
Gedenken per Wikipedia-Eintrag über KZ-Außenstelle Neugraben
Auch in Hamburg-Neuengamme gab es in der NS-Zeit ein Konzentrationslager. In Neugraben, einer Außenstelle des KZ, arbeiteten 500 jüdische Frauen. Sie liefen jeden Tag durch einen Wald, mussten hart arbeiten. Den gleichen Weg gehen Schüler*innen heute zur Schule. Die Fundamente im Boden und ein Brocken einer Wand scheinen unscheinbar. Gras wächst darüber.
Das wollten die 19 jungen Schüler*innen des Gymnasiums Süderelbe ändern: Sie schrieben einen Wikipedia-Eintrag über das KZ-Außenlager in Neugraben und errichteten Schilder an einer nahen Bushaltestelle und am Ort des ehemaligen Lagers, um den Frauen zu gedenken. Dafür gab es den Bertini-Preis.
“Wir fanden es interessant zu sehen, dass dort nichts an die Geschichte des Ortes erinnerte”, sagte eine Beteiligte auf der Bühne. Kaum ein*e Mitschüler*in habe etwas von dem ehemaligen Arbeitslager am Rande des Schulwegs gewusst. Das hat die Schulklasse nun geändert, auch für Spaziergänger.
Schule für alle: Theaterstück mit einem Rollstuhlfahrer
Die drei anderen Preisträger, ausgesucht aus insgesamt 22 Bewerbungen, wählten einen künstlerischen Ansatz. “Wir wären alle nicht hier” heißt das Theaterprojekt der Klasse 9c an der Ida-Ehre-Schule in Harvestehude. Ein Schüler sitzt teilweise gelähmt im Rollstuhl. Er wäre früher zur Sonderschule gegangen.
Heute besuchen er und sechs Klassenkamerad*innen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen eine Regelklasse. Sie sind alle gleich. “Über die Menschenrechte sind wir durch unser Projekt jetzt viel besser aufgeklärt”, sagt der Junge auf der Bühne mit kräftiger Stimme und lächelt. Seine 20 Mitschüler*innen und er bekamen Urkunden, ein Exemplar von Giordanos Roman “Bertini” und natürlich das Preisgeld als Scheck.
“Ein Lied für jedes kleine, stummgemachte Kind”
Im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort wurden im Rahmen des Euthanasie-Programms der Nazis 56 behinderte Kinder von jungen Ärztinnen per Spritze qualvoll getötet. “Ein Lied für jedes kleine, stummgemachte Kind” sangen die 27 Mitglieder*innen der Musik- und Theaterklasse (MUT) der Stadtteilschule Bergedorf. In ihrem Musical hielten die jungen Schauspieler*innen Plakate mit kleinen roten Fußabdrücken in die Höhe.
Bei Auftritten testeten sie ihr Publikum: “Wir fragten, was sie tun würden, wenn ihr Kind vor Geburt mit Trisomie 21 diagnostiziert werden würde. Und bekamen als Antwort oft nur betretene Stille”, berichtete ein Schüler.
Außerdem stellten die Bergedorfer*innen in Rothenburgsort ein weißes Kinderbett als Mahnmal auf – und bewiesen, wie entschlossen sie sind: Der private Investor auf dem Grundstück des ehemaligen Kinderkrankenhaus verbot das Mahnmal auf seinem Grund. Also stellten sie es einige Meter weiter auf den öffentlichen Boden des Gehsteigs.
Hochzeit für alle, Hass für keinen
30 Schüler*innen des Helmut-Schmidt-Gymnasiums in Wilhelmsburg schrieben das Theaterstück “Halomahs Erwachen – Lieber tot als ehrenlos”. Es spielt auf einer Hochzeit und handelt von Tabuthemen wie Zwangsehe, Homosexualität oder Ehrenmorden, die auch heute noch begangen werden.
Homosexuelle landeten in der NS-Zeit im KZ, auch in der Bundesrepublik outete man sich anschließend nicht gerne, berichtet ein Schüler. Das habe sich heute geändert, das “Tabuthema wurde aufgebrochen”. Neben dem Theaterstück führten die jungen Menschen auch eine Podiumsdiskussion in Wilhelmsburg zum Kopftuchverbot.
Tschentscher: Wehret den Anfängen
“Mein Kompass ist Auschwitz”, sagte Ralph Gioradano. Der Publizist rief den Preis im Jahr 1998 ins Leben, seitdem wurde er jährlich verliehen. Er sei eine Hamburger Institution für Verständigung und Demokratie gewesen, so die Gastgeberin im Ernst Deutsch Theater, Intendantin Isabella Vértes-Schütter. “Wer gegen diese Werte verstößt, kriegt es mit ihm zu tun.” Und heute mit den Preisträger*innen, den Schüler*innen.
Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher erinnerte vor der Verleihung an “das Leid, das die Nationalsozialisten in Hamburg, Deutschland und die Welt getragen” haben. “Nie wieder” und “Wehret den Anfängen”, sagte Tschentscher, und warnte vor dem sich ausbreitenden Antisemitismus, der Islamfeindlichkeit und der Ausgrenzung von Menschen. “Hamburg ist eine internationale, solidarische und vielfältige Stadt”. Tschentscher bat die Schüler*innen, sich weiter dafür einzusetzen – für ihre Zukunft.
Bevor die junge Band Alstertalboys am Montag auf der Bühne ihren letzten Song “Toxicity” von System of a Down spielten, nahm sich eine Wilhelmsburger Schülerin das Mikrophon und sagte: “Alle sagen immer, wir Migranten sollen uns integrieren. Ich bin hier geboren, bin Deutsche. Ich bin schon integriert.” Damit das in Zukunft so selbstverständlich wird, braucht es Menschen wie sie, die sich dafür einsetzen.