Eine unterirdische Röhre im Norden von Hamburg und die Suche nach einem unsichtbaren Teilchen: Im Desy werden Erklärungen für die Dunkle Materie gesucht, für den Stoff, der unser Universum zusammenhält.
von Anna Girke, Fynn Hornberg und Moritz Löhn
Woraus besteht unser Universum? Das ist eine Frage, die Physiker*innen seit Jahrhunderten umtreibt. Mittlerweile ist sich die Wissenschaft einig, dass es etwas geben muss, das wir nicht sehen können. Etwas, das unser Universum zusammenhält: die Dunkle Materie. Laut dem Max-Planck-Institut besteht unser Universum zu mehr als 25 Prozent aus der unsichtbaren Masse. Aber bisher hat niemand nachgewiesen, woraus Dunkle Materie besteht.
Nach dem Gesetz der Gravitation, der Anziehung, sollten Sterne langsamer um das Zentrum ihrer Galaxien kreisen, je weiter sie weg sind. Aber schon fast das Gegenteil ist der Fall, denn die Umlaufgeschwindigkeit bleibt konstant oder steigt sogar. Das fand die US-Forscherin Vera Rubin bereits in den 70er-Jahren heraus. Die Gravitationsgesetze geraten an ihre Grenzen und es muss eine Erklärung geben, die über das Sichtbare hinausgeht.
Das könnte die unsichtbare Dunkle Materie sein. Denn in unserem Universum gibt es eine Kraft, die Sternensysteme wie ein unsichtbarer Kleber zusammenhält und damit die einzelnen Körper in ihrer Bewegung beeinflusst.
In Hamburg arbeiten Wissenschaftler*innen des Desy (Deutsches Elektronen-Synchrotron) an einem Experiment, das die Grundlage der Dunklen Materie, sogenannte Axionen, nachweisen soll.
Im Norden Hamburgs hat das Forschungszentrum Desy einen Teilchen-Beschleuniger vergraben. In der Nähe des HSV-Stadions werden unter der Erde Teilchen mit hoher Geschwindigkeit durch eine Röhre geschossen oder mit Röntgen-Strahlung untersucht. Damit sollen Erkenntnisse über physikalische Prozesse gewonnen werden, wie sie auf natürliche Weise im Weltall ablaufen. Ziel des Ganzen sind Erkenntnisse darüber, wie sich kleinste Teilchen und Atome verhalten. Dadurch verstehen wir möglicherweise unsere Welt und unser Universum besser.
Einer dieser Forschenden am Desy ist Dr. Axel Lindner. Der Physiker ist Hauptverantwortlicher für das Experiment Any Light Particle Search (Alps). Aber klären wir erst mal die Basics.
Was ist überhaupt Dunkle Materie?
„Die Materie, die da sein muss, damit es überhaupt Galaxien gibt und nicht alles nur ein einziger Brei ist. Es liegt an Dunkler Materie, dass es überhaupt Struktur im Universum gibt”, erklärt Axel.
Und die Axionen sind Kandidaten, aus denen die Dunkle Materie bestehen könnte. Das Wort Kandidat ist in diesem Fall kein komplizierter physikalischer Begriff. Axionen sind vergleichbar mit Kandidaten einer Castingshow. Die Show mit dem Namen: Woraus besteht Dunkle Materie? Wenn Physiker*innen abstimmen könnten, wären die Axionen momentan einer der Favoriten auf den Sieg.
Axione sind hypothetische Teilchen. Theoretisch könnte es sie geben, nachgewiesen wurden sie bisher noch nicht. Mit Teleskopen wird nach Axionen im Sonneninneren oder im Licht der Milchstraße gesucht. Forschende versuchen mit Hilfe von „Licht durch die Wand”-Experimenten (also Any Light Particle Search) die Teilchen zu finden. So auch im Desy.
„Damals waren wir eher so Outsider.”
„Wir wollen einen Dunkle-Materie-Generator bauen”, sagt Axel Lindner, „mit dem man Axionen herstellen und messen kann. Leider sind sie ja unsichtbar. Aber es gibt Ideen, die auch schon 30 Jahre alt sind, wie man sie finden könnte.”
Wenn man mit Axel spricht, wirkt es so, als wäre das alles ganz einfach. Der Wissenschaftler spricht immer mit einem Lächeln im Gesicht über die großen Fragen der Physik. Ihm ist durchaus bewusst, dass seine Forschung nichts Geringeres als den Nobelpreis bedeuten würde, wenn sie ihr Ziel erreicht. Darum geht es ihm aber gar nicht. Er ist angetrieben von seiner Faszination für Physik.
Das wird deutlich, wenn der Physiker über die Anfänge des Alps-Experiments spricht: „Ich hatte damals einen anderen Job bei Desy, aber mir wurde gestattet, auch in meiner Freizeit ein bisschen Physik zu machen. Als wir anfingen, waren Axionen uninteressant, weil alle geglaubt haben, die großen Beschleuniger lösen das Problem. Zum Beispiel im Cern mit zehntausenden von Leuten, die da arbeiten. Deshalb war es ein bisschen verrückt, wenn da ein kleiner Trupp kommt und sagt: ‚Wir mit unseren 15 Leuten, wir lösen das Problem.’ Damals waren wir eher so Outsider.”
Cern ist eine Forschungseinrichtung in der Nähe von Genf. Mit Hilfe deutlich größerer Teilchenbeschleuniger als beim Desy wird dort physikalische Grundlagenforschung betrieben. Der Name Cern leitet sich vom französischen Conseil européen pour la recherche nucléaire ab. Es ist auf dem Gebiet der Teilchenphysik das größte Forschungszentrum der Welt.
„Okay, es gibt einen höheren Hinweis. Wir sollen das Experiment machen.”
Alps begann als Hobbyprojekt. Axel und sein Team waren nur zu fünft. Sie arbeiteten nebenbei in ihren Desy-Büros am neuen Experiment. „Bei Desy gibt es eine Kultur der relativ freien Zeiteinteilung”, erklärt Axel. „Es ist nicht so, dass wir tagsüber erst mal unsere normale Arbeit machen mussten und danach bei Alps spielen durften. Uns war die Organisation völlig selbst überlassen, solange die Aufgaben, für die wir bezahlt wurden, erledigt wurden.”
Es gab zunächst kaum finanzielle und materielle Unterstützung. Axel und sein Team haben sich ihre Geräte aus Überbleibseln vergangener Experimente zusammengesucht. Und selbst dabei gab es Probleme. Axel erinnert sich: „Am Anfang wurde uns gesagt, dass wir die Magnete aus dem alten Beschleuniger nicht verwenden dürfen, weil der intakt bleiben soll. Dann haben wir aber noch 24 Reservemagnete gefunden. Dann dachte ich: ‚Okay, es gibt einen höheren Hinweis. Wir sollen das Experiment machen.’ ”
Die Suche nach Licht hinter der Wand
Knapp zehn Jahre lang hat das Team mit wenig Geld und wenig Ressourcen die nötigen Technologien entwickelt. 2017 gab es dann vom Desy-Direktorium die Erlaubnis, alles aufzubauen. 2021 war das Experiment fertig, es musste aber noch einiges kalibriert werden. Seit Mai 2023 ist es betriebsbereit.
„jedes Experiment ist, als würde man in einen dunklen Raum gehen und mit einer Taschenlampe eine bestimmte Stelle anleuchten.”
Und wie läuft das Experiment ab? Bitte in einfachen Worten: „Wir schießen Licht in ein Magnetfeld und dann soll nach den Theorien Dunkle Materie entstehen können. Die Dunkle Materie bewegt sich weiter fort und am Ende der Magnetstrecke ist eine lichtdichte Wand. Da fliegt Licht nicht durch, aber die Dunkle Materie kann durchfliegen. Hinter der Wand würde sich ein winziger Teil der Dunklen Materie wieder in Licht zurückverwandeln. Wir versuchen, dieses Licht zu finden. Wenn wir das sehen würden, dann hätten wir keine andere Erklärung, als dass Dunkle Materie das Licht durch die Wand getragen hat”, fasst Axel zusammen.
Der Wissenschaftler spricht von einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit, dass das Experiment gelingt. Das sei aber optimistisch geschätzt. Es gebe in der Wissenschaft durchaus Streit darüber, wie ernst man die Indizien für die Axionen nehmen kann.
Auch eine Niederlage ist ein Erfolg
Aber es geht bei dem Experiment auch nicht ausschließlich um die bahnbrechende Entdeckung der Axionen. Sie ist das Hauptziel. Christina Schwemmbauer, Doktorandin, arbeitet am Experiment mit und hat eine schöne Analogie für die Arbeit an dem Experiment gefunden: „Bei Dunkler-Materie-Forschung muss das Ziel sein, dass wir was finden wollen. Aber jedes Experiment ist, als würde man in einen dunklen Raum gehen und mit einer Taschenlampe eine bestimmte Stelle anleuchten. Dann hat man sich diese Stelle schon angeguckt. Dann muss jemand anders da nicht mehr hinleuchten. Weil wir sagen können: ‚Da ist es schon mal nicht.’ ”
Selbst wenn die Physiker*innen in Hamburg nichts finden, erleichtern sie ihren Kolleg*innen irgendwo anders auf der Welt die Arbeit, indem sie den Suchbereich verkleinern. Dann wissen alle nämlich, dass Axionen auf diese Art wahrscheinlich nicht gefunden werden. Physik kann sowieso nicht aus nationaler Sicht betrachtet werden. Als Hamburger Experiment würde Alps nicht funktionieren, sagt Axel. Es gebe nicht die nötigen Expert*innen.
„Auch die besten Forschenden können nicht vorhersagen, was durch solche Entdeckungen passiert.”
Deshalb ist das Team, das an Alps arbeitet, sehr international aufgestellt. Es arbeiten untere anderem Menschen aus Kuba, Frankreich, Taiwan, Iran, USA, England, Italien und Indien mit. Axel sagt zwar, dass es nicht um Völkerverständigung gehe – lediglich um Expertise. Bei dem Thema wird aber auch der gestandene Forscher etwas pathetisch: „Als ich vor langer Zeit zu Desy kam, war ich plötzlich in einer Gruppe, wo Sowjetunion, USA, Kanada, DDR, BRD, Schweden, Jugoslawien zusammenarbeiteten. Das war für mich, als Kind des Kalten Kriegs, völlig undenkbar. Die Menschen arbeiteten einfach zusammen und Politik spielte keine Rolle. Ich übertreibe manchmal, aber ich finde, das ist eine zutiefst menschliche Zusammenarbeit. Ohne diese Barrieren, die uns in die Köpfe gedrückt werden von irgendwelchen Leuten. Das ist meine Überzeugung. ”
Wofür müssen wir die Dunkle Materie überhaupt verstehen?
Das ist ja alles schön und gut. Aber manch einer wird jetzt fragen, was bringt diese ganze Arbeit? Wie beeinflusst mich das im Alltag? Das sind Fragen, die Axel und sein Team immer wieder gestellt bekommen. Die Antwort ist so einfach wie unbefriedigend: Man weiß es noch nicht. Axel blickt gerne in die Vergangenheit, um zu erklären, wie sich seine Grundlagenforschung auswirken könnte: „Einstein hat die Relativitätstheorie erfunden, hat dabei aber niemals an ein GPS-System gedacht. Maxwell hat zum Beispiel auch elektromagnetische Wellen vorhergesagt. Der hatte aber nicht die geringste Ahnung, dass es Handys geben würde. Das HTML-Protokoll für das World Wide Web wurde bei Cern für den Datenaustausch erfunden. Auch die besten Forschenden können nicht vorhersagen, was durch solche Entdeckungen passiert.”
Aber eines sei laut Axel klar: Die Forschenden bräuchten Spielzeit für Grundlagenforschung, damit neue grundlegende Dinge entstehen könnten. Und bei dieser Forschung kommen sich selbst die klügsten Köpfe ab und zu ganz schön dumm vor. Wer schon mal eines von Steven Hawkings Büchern gelesen hat, kennt das Problem: Man würde die spannenden Theorien gerne verstehen, aber es geht einfach nicht in den Kopf rein. Da beruhigen die Physiker*innen vom Desy uns ‘Normalos’. Ihnen gehe es genauso. Doktorandin Christina bringt es auf den Punkt: „Wenn du eine Doktorarbeit schreibst, dann halten dich alle für total schlau und denken, du weißt alles. Aber du selbst hast dich in deinem Leben noch nie so dumm gefühlt.”
Axel bewältigt den Physikeralltag, der nur selten echte Erfolgserlebnisse bietet, mit einer guten Portion Optimismus. Er bezeichnet sich selbst als Zweckoptimist. Er sehe es immer irgendwie positiv und hat auch dazu eine Anekdote parat: „Irgendwann kam ich strahlend nach Hause und erzählte meiner Frau, was wir tolles gemacht haben. Sie reagierte nicht darauf. Da habe ich gesagt: ‚Du freust dich ja gar nicht mit mir.’ Da meinte sie: ‚Ich weiß doch, morgen hast du wieder einen Fehler gefunden.’ Das ist etwas, was ich in so einem Moment völlig ausblende. Aber sie hat natürlich recht.”
Bleibt zu hoffen, dass Axel eines Tages strahlend nach Hause kommt und am nächsten Tag keinen Fehler findet. In diesem Fall wäre dem einstigen Outsider der Physik der Nobelpreis sicher.
Die”MOND”Theorie passt besser…