Vor dem Landgericht Hamburg geht es gerade um G20-Randale und eine grundlegende juristische Frage: Muss man Straftaten verantworten, die man nicht in eigener Person begangen hat? Milan Kuhli, Professor für Strafrecht, erklärt wie.
Laute Parolen, zerbrochene Scheiben, brennende Autos – am Freitag vor dem G20-Gipfel 2017 in Hamburg kam es in der Elbchaussee zu gewaltsame Ausschreitungen. Rund 220 vermummte Personen hatten in der Straße, die von vielen Villen und Herrenhäusern gesäumt ist, eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Fünf von ihnen wurden gefasst; sie müssen sich seit rund eineinhalb Jahren vor dem Hamburger Landgericht verantworten.
Der Schaden beträgt nach Angaben der Staatsanwaltschaft mindestens eine Million Euro. Sechs Menschen erlitten Verletzungen oder Schocks. Die Vorwürfe gegen die Angeklagten sind schwerer Landfriedensbruch, Mittäterschaft bei Brandstiftung, gefährliche Körperverletzung und ein Verstoß gegen das Waffengesetz.
Das Ungewöhnliche: Vier der fünf jungen Männer sollen die Straftaten nicht selbst begangen haben. Nach eigenen Angaben hätten sie den Umzug sogar verlassen, als er ihnen zu gewalttätig wurde. Für die Staatsanwaltschaft ist das zweitrangig: Sie wirft ihnen vor, mit Gewalttätern zusammengewirkt zu haben und fordert Haftstrafen von bis zu vier Jahren und neun Monaten.
Ob das angemessen ist und welche Auswirkungen ein Urteil auf Demonstrationen in Zukunft haben könnte, erklärt uns Milan Kuhli, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Uni Hamburg.
“Ist eine Mittäterschaft beweisbar, so werden alle Mittäter grundsätzlich als Täter bestraft.”
FINK.HAMBURG: Der Prozess über die Ausschreitungen in der Elbchaussee ist ungewöhnlich. Können Sie erklären, was den Fall besonders macht?
Kuhli: Randale, die von einer Vielzahl von Personen verübt werden, bewegen die Öffentlichkeit immer wieder. Dies sieht man nicht nur bei den jüngsten Ereignissen in Stuttgart, sondern auch bei den Ereignissen rund um den G20-Gipfel in Hamburg.
Zur Person
Milan Kuhli ist Professor und Prodekan an der juristischen Fakultät der Universität Hamburg. Er ordnet Strafrecht und Strafprozessrecht international und historisch ein. Dabei spricht er unter anderem über Polizeigewalt oder den NSU-Prozess. Neben seiner Promotion in Rechtswissenschaften hat er einen Doktortitel in Geschichtswissenschaft.
Im vorliegenden Fall kommt aber noch ein weiterer Aspekt hinzu: Vier der Angeklagten wird von der Staatsanwaltschaft gerade nicht vorgeworfen, in eigener Person Gewalttaten verübt zu haben, sondern arbeitsteilig mit Gewalttätern zusammengewirkt zu haben. Strafrechtlich spricht man in solchen Konstellationen von Mittäterschaft. Ist eine solche Mittäterschaft beweisbar, so werden alle Mittäter grundsätzlich „als Täter bestraft”.
Auf der anderen Seite muss man aber auch sagen, dass mittäterschaftliche Konstellationen in Strafverfahren keineswegs eine Seltenheit bilden. Man denke etwa nur an Aktivitäten von Diebesbanden. Auch wenn es in derartigen Fällen lediglich zu einem einzelnen Taterfolg kommt – beispielsweise wird ein einzelnes Auto angezündet – gibt es mehrere Mittäter. Dies mag für Außenstehende merkwürdig anmuten. Andererseits muss man berücksichtigen, dass durch ein Zusammenwirken vieler Personen bestimmte Delikte überhaupt erst ermöglicht werden können – Delikte, die ein Einzelner möglicherweise nicht allein schaffen würde.
FINK.HAMBURG: Könnte mit den geforderten Strafen im Prozess ein Exempel statuiert werden, weil nur fünf von rund 220 Demonstrierenden identifiziert wurden?
Ein Mensch darf nicht deshalb besonders hart bestraft werden, weil ein anderer nicht gefasst wurde. Eine solche Gefahr sehe ich hier aber auch nicht.
“Die Vermummung könnte relevant sein.”
FINK.HAMBURG: Vier der Angeklagten zeigen Reue und haben damals selbst keine Gewalttaten begangen – sie sollen Haftstrafen bis zu drei Jahren erhalten. Ein Angeklagter wurde mehrfach gewalttätig – er soll für vier Jahre und neun Monate in Haft. Wie bewerten Sie die geforderten Strafen und ihr Verhältnis zueinander?
Kuhli: Da ich nicht in der Hauptverhandlung anwesend war […] kann ich nur feststellen, dass die geforderten Strafen nicht außerhalb des Bereichs des Vertretbaren liegen. Auch wenn vier der Angeklagten nicht persönlich Gewalttaten begangen haben sollten, bliebe zumindest der Vorwurf, dass sie sich mittäterschaftlich an der Begehung fremder Gewalttaten beteiligt haben sollen. Das Gesetz bewertet die Begehung als unmittelbarer Täter und als Mittäter gleich. Dies lässt sich auch damit begründen, dass im Fall des Zusammenwirkens vieler Personen leichter Straftaten begangen werden können.
FINK.HAMBURG: Die Forderungen des Staatsanwalts klingen quasi wie die juristische Auslegung der Redewendung “mitgehangen, mitgefangen”. Ist das ein übliches Vorgehen oder könnte das ein Präzedenzfall für das Demonstrationsrecht werden?
Kuhli: Eine der zentralen Fragen für die mittäterschaftliche Zurechnung der Gewalttaten wird sein, ob tatsächlich ein arbeitsteiliges Zusammenwirken auf der Grundlage eines gemeinsamen Tatplans gegeben war. Dies verlangt keine ausdrückliche Verabredung. Auch eine spontan geschlossene und stillschweigende Übereinkunft reicht aus. Ein bloßes Mitlaufen dürfte für sich genommen in der Regel nicht ausreichen. Relevant könnte aber die Vermummung sein: Arbeitsteilung durch Anonymisierung. Besonders wichtig ist aber, ob tatsächlich ein stillschweigender Tatplan vorlag, der vorsah, dass einzelne Personen derart schwere Gewalttaten begehen werden. Dies ist eine Beweisfrage, die in der Hauptverhandlung zu klären ist. Hier könnte es beispielsweise darauf ankommen, ob sich die Angeklagten nach der ersten für sie erkennbaren Gewalttat erkennbar von dem Verhalten distanzierten.
FINK.HAMBURG: Angenommen der Prozess wird zum Präzedenzfall. Hieße das: Friedliche Demonstrierende machen sich grundsätzlich strafbar, wenn sie an Protesten beteiligt sind, auf denen Straftaten begangen werden?
Kuhli: Soweit ließe sich eine Verurteilung in diesem Fall nicht verallgemeinern. Beteiligen sich friedlich Demonstrierende an einer Großdemo, aus der heraus einzelne Gewalttaten begangen werden, folgen hieraus in der Regel noch keine strafrechtlichen Konsequenzen für alle Demonstrierende.
Statt vier Jahren und neun Monaten Gefängnis fordert die Verteidigung eines Angeklagten einen Freispruch. Die vor Gericht gezeigten Videoaufnahmen ließen keine eindeutige Verifizierung zu. Die anderen Angeklagten werden Anfang Juli verteidigt. Kurz darauf wird ein Urteil erwartet.
Titelbild:Archiv/Boris Roessler/dpa