Über 80 Jahre lang liefen Hebammen und Ärzte über die Gänge des Gebäudes in der Finkenau 35, bis die Frauenklinik zum Standort der HAW Hamburg wurde. FINK.HAMBURG hat sich auf historische Spurensuche begeben.
Von Eva Seuken und Melissa Körner
Nicht viele Leute verbringen an dem Ort, an dem sie geboren wurden, auch als Erwachsene viel Zeit. Bei Martin Gennis, Professor für Informationstechnologie und Informationsmanagement, ist das anders. Als er 1959 auf die Welt kam, lag er die ersten Tage seines Lebens in den Räumen, die heute sein Arbeitsplatz sind. Wo heute das Department Information der HAW Hamburg beheimatet ist, brachten früher Schwangere in der Frauenklinik Finkenau ihre Kinder zur Welt.
Zum 100-jährigen Jubiläum des ehemaligen Klinikgebäudes führt Martin Gennis seine Mutter Astrid Gennis durch die Räume, vorbei am ehemaligen Sauerbruch-Hörsaal und dem ehemaligen Kreißsaal – wo sich heute das Computerlabor des Departments Design befindet. Astrid Gennis erinnert sich: “Kleidung und Körperhaltung sollten damals den Zustand einer Schwangeren lange verdecken. So fragte man mich in der Aufnahme, ob ich denn überhaupt Wehen hätte”, sagt sie. Nachdem sie damals kurz untersucht wurde, war jedoch klar: Es geht in den Kreißsaal. Und hier hielt sie drei Stunden später überglücklich ihren Sohn Martin in den Armen.
Studierende statt Hebammen in der Finkenau
Die Vergangenheit der Gebäude kann man noch an einigen Details erkennen: Die Flure sind lang, durch breite Türen lassen sich Krankenhausbetten schieben. Ein medizinisches Kreuzsymbol am Tunnelbogen zum Innenhof, Skulpturen von Müttern mit ihren Kindern vorm Eingang der heutigen Hochschule und im Innenhof erinnern daran, warum die roten Backsteinhäuser ursprünglich erbaut wurden.
Von 1914 bis 2000 haben Schwestern, Hebammen und Ärzt*innen hier gelernt und gearbeitet. In 86 Jahren wurden etwa 250.000 Kinder auf die Welt geholt. Das womöglich berühmteste Baby ist Altbundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), der 1918 in der Frauenklinik Finkenau geboren wurde. So unterschiedlich Vergangenheit und Gegenwart des Ortes ist, eines haben sie gemeinsam – die Tradition der Lehre.
Eine kurze Geschichte der Entbindungsanstalten
Im 17. Jahrhundert wurden in einigen größeren Städten Deutschlands die ersten Entbindungseinrichtungen für mittellose Schwangere eingerichtet. Dazu zählten insbesondere unverheiratete Frauen, wie zum Beispiel Hausmädchen, die bei einer Schwangerschaft häufig verstoßen wurden und auf der Straße landeten. Aufgrund der aussichtslosen Situation setzten die Frauen ihre Kinder oft aus oder töteten sie sogar, wie Prof. Dr. Hanns Dietel in seiner Studie “Lucina Hamburgensis” zur Geschichte der Geburtshilfe in Hamburg aus dem Jahr 1964 darlegt. Erst 1796 wurde für sie ein Zufluchtsort geschaffen und die erste Entbindungsanstalt eröffnet.
Erste Entbindungsanstalt in Altona
In Altona gab es bereits seit 1765 eine Entbindungsanstalt – der heutige Hamburger Stadtteil war zu der Zeit jedoch noch eine eigenständige Stadt im Herzogtum Holstein. Erst 1937 wurde sie unter den Nationalsozialisten in Hamburg eingegliedert.
Das Haus war anders, als wir uns heute eine Geburtsklinik vorstellen. Es bestand lediglich aus einem Zimmer für Wöchnerinnen, einem Kreißzimmer mit neun Betten und einer rudimentären Ausstattung. Das änderte sich über die Jahre nur bedingt: Immer wieder wurden temporäre Entbindungsanstalten eingerichtet, die nach einiger Zeit umziehen oder ganz schließen mussten. Erst 1896 beschloss die Hamburger Bürgerschaft den Bau einer eigenständigen Entbindungsanstalt mit Hebammenschule in Eppendorf. Und auf die folgte 1914 schließlich das Geburtsinstitut in der Finkenau.
Frauenklinik Finkenau: Wie alles begann
Am 1. Juli 1914 wurde das Institut für Geburtshilfe in der Finkenau eingeweiht. Bis zu diesem Zeitpunkt mussten sich Schwangere, die nicht zu Hause gebären wollten oder konnten, auf den Weg in die Entbindungsanstalt bis nach Eppendorf machen. Für viele ein weiter Weg, den viele Frauen gar nicht erst antraten. So brachten im Jahr 1907 etwa 3.011 Frauen ihre Kinder in Hamburg zur Welt, aber nur 1.039 in der Eppendorfer Klinik. Abgesehen von der ungünstigen Lage gab es bald ein weiteres Problem: Mit nur 47 Betten erwies sich die Klinik als zu klein.
1909 reichten Hamburgische Frauenvereine gegen diese Unterversorgung und die hohe Säuglingssterblichkeit beim Senat eine Petition ein. Sie forderten die Gründung einer neuen Entbindungsanstalt. Diese sollte nicht nur zentraler liegen, sondern auch angemessen ausgestattet sein. Kurz darauf beschlossen der Senat und die Bürgerschaft den Neubau des Instituts für Geburtshilfe im Stadtteil Hamburg-Uhlenhorst – unter Protest, denn das Eilbekufer in Uhlenhorst galt als gehobene Wohngegend und zu dieser Zeit brachten vor allem unverheiratete Frauen, arme Frauen und Prostituierte ihre Kinder in Geburtskliniken zur Welt. Wer die Möglichkeit hatte, zu Hause zu entbinden, tat das.
(...) Dass dieses Institut, das so ganz außerordentlich der Neuzeit entsprechend und luxuriös eingerichtet werden soll, in der Hauptsache für die Hausschwangeren benutzt wird und dass es somit gerade die schlechtesten Elemente sind, denen man die beste Einrichtung zur Verfügung stellt, das ist verkehrt! Zitat aus der Bürgerschaftssitzung vom 12. April 1911
Der Erbauer der Frauenklinik Finkenau
Fritz Schumacher prägte das Stadtbild Hamburgs nachhaltig. Von 1909 bis 1933 errichtete er neben der Frauenklinik Finkenau zum Beispiel auch das Museum für Hamburgische Geschichte, das Tropeninstitut oder die Davidwache.
Doch die Befürworter*innen der Klinik setzten sich durch und so beauftragte der Senat den Hamburger Architekten und damaligen Baudirektoren Fritz Schumacher mit dem Bau der Klinik. Von 1911 bis 1914 entstand das Institut für Geburtshilfe mit dazugehöriger Lehranstalt für Schwestern und Hebammen.
Die Frauenklinik Finkenau und zwei Kriege
Die Klinik wurde am 1. Juli 1914 eröffnet, wenig später begann der Erste Weltkrieg. Viele Informationen zur Rolle der Frauenklinik in beiden Weltkriegen gibt es nicht. Über 300 Betten sollen im Ersten Weltkrieg als Lazarett gedient haben. Das hohe fensterlose Gebäude im Innenhof stammt aus de Zweiten Weltkrieg. Der Bunker wurde Anfang der 1940er Jahre im Rahmen des Sofortprogramms zum beschleunigten Ausbau von Luftschutzräumen erbaut. Er ist 40 Meter hoch und hat zwei Meter dicke Wände. In ihm fanden 40 Krankenbetten, ein Operationssaal und ein Kreißsaal Platz – eine absolute Besonderheit für einen Luftschutzbunker. Klinikpersonal und Patient*innen konnten sich im Bunker vor Luftangriffen in Sicherheit bringen. Allein 1943 kamen fast 3.000 Kinder im Bunker zur Welt.
In der Zeit des Nationalsozialismus spielte die Finkenau auch eine unrühmliche Rolle: Zwischen 1934 und 1945 wurden in der Klinik 35 Prozent der Zwangssterilisationen in dieser Zeit vorgenommen. Dabei handelte es sich häufig um Patient*innen des Staatskrankenhauses Langenhorn, die in der Finkenau operiert wurden. 1939 wurden mindestens 445 Patient*innen des Krankenhauses zwangssterilisiert, viele davon in der Finkenau.
Das Image der Geburtsklinik wandelt sich
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wandelte sich das Image des Hauses zur professionellen Geburtsklinik, in der jede Frau mit der Sicherheit moderner medizinischer Versorgung ihr Kind zur Welt bringen konnte. Immer mehr bürgerliche Frauen brachten ihre Kinder im Krankenhaus zur Welt und die Säuglingssterblichkeit sank. In den 1920er Jahren galt das Institut für Geburtshilfe mit 5.000 Geburten als die größte Geburtsklinik Westeuropas. In den 1960er-Jahren wurden hier jährlich rund 5.500 Kinder geboren.
In vielerlei Hinsicht eine Vorreiterin
Ihren Erfolg verdankt die Einrichtung auch den Innovationen, mit denen sich das leitende Personal hervortuen konnte: Der ehemalige Oberarzt Dr. Horst Pomp sagt: „Es wurde hier eine der ersten Anästhesieabteilungen an einer Frauenklinik errichtet.” Außerdem habe es in der Finkenau die erste Station für die zytostatische Behandlung von Tumoren, die die weiblichen Brust und die weiblichen Geschlechtsorgane befallen, sogenannte gynäkologischen Tumoren, und Jahrzehnte vor der gesetzlichen Einführung eine kostenlose Krebsvorsorge-Ambulanz gegeben.
“Es gab die größte Frauenmilchsammelstelle. Es wurden bis zu 10.000 Liter pro Jahr gesammelt,“ so Pomp. Noch bis in die 1970er-Jahre hinein wurden Mütter, die selbst nicht genug Milch für ihre Säuglinge hatten, in ganz Hamburg von der Milchküche der Finkenau beliefert. Dazu sammelten zukünftigte Hebammen überschüssige Milch ein und brachten sie zu stillenden Müttern im Stadtgebiet.
100 Geschichten
Zum 100-jährigen Jubiläum der Frauenklinik Finkenau im Jahr 2014 haben Mitarbeitende und Studierende des Departments Design, Medientechnik und Information (DMI) der HAW Hamburg eine Ausstellung organisiert. Dafür haben sie über 100 Geschichten von Menschen gesammelt, die etwas mit der Finkenau verbinden: Entweder sie haben dort Kinder geboren, sind selbst zur Welt gekommen oder haben jahrelang in der Klinik gearbeitet.
Doch nicht nur medizinisch setzte die Frauenklinik zukunftsweisende Maßstäbe. So führte sie beispielsweise eine Vatersprechstunde ein, in der werdende Väter den Umgang mit Säuglingen lernten. Besonderheiten wie diese führten dazu, dass jede*r Mitarbeiter*in bis heute eine tiefe Verbundenheit zur Klinik haben. “Die Arbeit an der Frauenklinik Finkenau hat ganze Hingabe bedeutet. Sie war erfüllend und hat uns geprägt. Bis heute bin ich stolz, ein Finkenauer zu sein,” betonte zum Beispiel Dr. Pomp.
Von der Frauenklinik zum Campus Finkenau
Am 1. Oktober 2000 schloss die Frauenklinik Finkenau endgültig ihre Türen. Sie war zu teuer. Jährlich 1,5 Millionen Deutsche Mark Unterhalt konnte sich die Stadt nicht mehr leisten, und so wurde die Klinik nach Barmbek verlagert. Mehrere Jahre stand das Gebäude leer, nachdem die Frauenklinik mit der Asklepios Klinik in Barmbek zusammengelegt wurde. Doch die Tradition der Ausbildung blieb der Finkenau erhalten: Der Hamburger Senat beschloss 2003, hier einen Kunst- und Mediencampus zu erschaffen, woraufhin ab 2005 das Dach saniert wurde und im Frühjahr 2008 der Haupt- und Südflügels des Gebäudes.
Eine große Rolle spielt dabei der Denkmalschutz, auch heute noch. So dürfen beispielsweise nur an bestimmten Stellen Nägel in die Wände geschlagen werden, um Bilder aufzuhängen. Trotz solcher Besonderheiten konnte der Komplex behutsam aber umfassend modernisiert werden, sodass 2010 die Fakultät Design, Medien und Information (DMI) der HAW Hamburg und die Hamburg Media School dort einziehen konnten. Ein Jahr vor der Eröffnung des Campus wurde das Studiogebäude fertiggestellt, erkennbar an der Lamellenfassade. Hier sitzt heute der Stadt- und Ausbildungskanal TIDE. In der ehemaligen Wäscherei nebenan entwickelt in der Miami Ad School der Nachwuchs der Werbebranche kreative Kampagnen.
2015 wurde der Campus um einen Neubau aus roter Ziegelfassade ergänzt. In den vier Stockwerken können Studierende in der Mensa und Cafeteria speisen, in der Fachbibliothek DMI lernen oder sich in den Laboren des Departments Medientechnik und Design der HAW Hamburg austoben.
Die Tradition der Lehre blieb erhalten
Haustiere der Frauenklinik
Noch bis in die 60er-Jahre wurden im Keller der Frauenklinik Frösche gehalten. So funktionierte der Kröten-Schwangerschaftstest: Man spritzte den männlichen Kröten beziehungsweise Fröschen den Urin oder das Blutserum einer Frau unter die Haut. Wenn das Tier innerhalb von 24 Stunden Samen produzierte, galt der Schwangerschaftstest als positiv. Geschadet hat ihnen das nicht, sie wurden nach einem Jahr wieder ausgesetzt.
Wer heute auf dem Campus arbeitet oder studiert, wäre sicherlich überrascht, als was die Labore, Hörsäle und Büros früher teilweise gedient haben. In der Druckereiwerkstatt etwa wurden Kröten und Frösche in einer Badewanne gehalten, um anzuzeigen, ob eine Frau schwanger ist oder nicht. Der heutige Sitzungsraum der Fakultät war früher die Schwesternmesse. Und aus den sechs Kreißsälen hört man kein Babygeschrei mehr sondern das leise Tippen auf Tastaturen im Computerlabor des Departments Design.
Die ehemaligen Mitarbeiter*innen der Frauenklinik erinnern sich gut, was in den Räumen früher passiert ist. Sie lassen uns im Video daran teilhaben. Die Ausschnitte wurden von der HAW Hamburg bereit gestellt und zusammengeschnitten. Die historischen Bilder wurden ebenfalls von der HAW Hamburg bereitgestellt.