Der letzte Vorhang auf der Elbinsel fiel im Rialto, das exemplarisch für zahlreiche deutsche Kinos steht, die nicht mehr existieren. Wilhelmsburg ist seit vielen Jahren ohne Lichtspielhaus. Es gibt Menschen, die das ändern möchten.
Die Möwen ziehen kreischend ihre Bahnen am grau verhangenen Himmel, während eine Kehrmaschine ratternd über den Stübenplatz im Wilhelmsburger Reiherstiegviertel fährt. Der Regen prasselt schon den ganzen Morgen auf die Elbinsel hinab. Perfektes Wetter, um sich mit duftendem Popcorn in einen bequemen Kinosessel fallen zu lassen. Jedoch sucht man in diesem Stadtteil vergeblich nach einem Haus, in dem täglich ein Vorhang zur Seite schwingt, um den Blick auf eine Leinwand freizugeben.
Der Wilhelmsburger Liedermacher Eddy Winkelmann hat es miterlebt, das sogenannte Kinosterben auf der Elbinsel. Überall in Deutschland fing es gleich an: Die erste Welle wurde durch den Fernseher ausgelöst, die Zweite durch den Videorekorder. Seit seiner Geburt im Jahre 1957 lebt Winkelmann in Wilhelmsburg. Damals gab es dort noch sieben Kinos. Er besuchte früher mit seinen Eltern das Astoria-Kino oder die Filmburg. Besonders schloss er jedoch das Rialto im Norden des Stadtteils ins Herz, mit seinem etwas verruchten Flair: „Damals war ein Gang ins Kino noch ein soziales Ereignis“, erinnert sich der heute 60-Jährige.
Das Rialto galt als Halbstarken-, Proleten- oder Rockerkino: „Hier haben sich die Jungs getroffen, Kung-Fu filme geschaut und vor der Tür mit ihren Mopeds und Kutten die Leute aufgemischt“, erzählt Winkelmann. Zwischen Weihnachten und Neujahr gab es von den Eltern Rialto-Verbot, da die Rüpel in der letzten Reihe ständig mit Böllern warfen. Und Nachts lief ein Schmuddelprogramm für ausgewähltes Publikum. Das letzte noch geöffnete Lichtspielhaus der Insel musste 1986 trotz Ikonenstatus seine Pforten schließen.
Doch die alte Dame wurde 2013 pünktlich zu ihrem 100sten Geburtstags von Stephan Reifenrath wiedererweckt. Der Hamburger Unternehmer lebte und arbeitete vorher in verschiedensten Stadtteilen, baute Ton-Studios und Privatkinos, betrieb einen Plattenladen und heute eine Bootsschule in Wilhelmsburg.
„Ich würde nicht sagen, dass ich für Film sterbe, aber es war eine folgerichtige Entscheidung für mich, das Rialto wieder zu eröffnen“, erklärt er. Reifenrath hatte durch seine beruflichen Erfahrungen das nötige Know-how und ergriff im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) die Chance. Er kaufte das seit 30 Jahren leerstehende Kultkino und durfte es für ein halbes Jahr bespielen. Auch Eddy Winkelmann stand auf der Bühne und spielte seine Lieder: „Das war für mich wie ein Kindheitstraum, als ob der Kreis sich endlich schließen würde“.
Der erste Kuss in der 15ten Reihe
Stephan Reifenrath sitzt heute in seinem luftigen Apartment, zieht genüsslich an seiner Zigarette und erinnert sich an die temporäre Wiedereröffnung: „Während das Projekt anlief, hat sich gezeigt, dass es wie eine soziale Kollage ist.” Die Besucher erzählten von ersten Küssen, dem alten Stehgeiger Herrn Holzapfel und etlichen persönlichen Anekdoten. In sechs Monaten gab es über 300 Veranstaltungen. Nun sind die Sitze verlost, die Leinwand in Handtaschen verarbeitet und die Türen endgültig geschlossen. Das hat vor allem den alteingesessenen Leuten im Vierteln sauer aufgestoßen. Trotzdem ist in Wilhelmsburgs letztem Lichtspielhaus schnell Ruhe eingekehrt.
Hohe Hürden und große Chancen
Obwohl die Nachfrage nach Veranstaltungen im Rialto riesig gewesen sei, war Weitermachen für Reifenrath keine Option. „Auf Dauer und unter regulären Bedingungen wäre ein wirtschaftlicher Betrieb unmöglich“, urteilt er. Normale Bedingungen bedeuten bürokratische Auflagen, die ihm durch die Endlichkeit des Projektes erspart blieben: Angemessene Standards der sanitären Anlagen, dezidierte Brandschutzbestimmungen, ausreichend Parkplätze und maximale Lärmbelästigung auf der Straße gehören dazu.
Weitere Probleme seien hohe Mieten, zu große Initialkosten, Restriktionen der Filmverleiher, ihre exorbitanten Gewinnmagen, die eine Mindestanzahl von Sälen erforderlich machen, sowie die Konkurrenz der großen Kinoketten. Und außerdem seien Special-Interest-Produktionen allein nicht ausreichend, um ein Kino wirtschaftlich zu betreiben. „Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Ertrag“, befindet der 50-jährige Unternehmer.
Beim Rialto-Projekt konnte Reifenrath nach eigenen Aussagen mit einer schwarzen Null abschließen. Das sei zum einen den vielen freiwilligen Helfern und Mitarbeitern zu verdanken, die sich mit einer Aufwandsentschädigung von fünf Euro pro Stunde zufriedengaben.
Obwohl das Filmgeschäft selbst gut laufe, was er an den immer größer werdenden Produktionen und steigenden Besucherzahlen festmacht, „hängen die Programmkinos am Tropf der Kulturbehörde“. Aber Stephan Reifenrath will kein Schwarzmaler sein. Er begrüßt die Initiativen, die das Kino aus dem klassischen Format heraustransportieren wie die Insellichtspiele oder das flexible Flimmern – beides mobile Konzepte. Trotzdem meint er, dass es in Zukunft kein festes Kino mehr in Wilhelmsburg geben wird.
Marco Antonio Reyes-Loredo ist anderer Meinung. Der Kulturanthropologe gründete 2008 mit zwei Freundinnen die Produktionsfirma „Hirn und Wanst“. Ihre „Konspirativen Küchenkonzerte“ wurden als erste freie Produktion jemals für den Grimme-Preis nominiert. Später drehten sie den Dokumentarfilm „Die Wilde 13“, der unter anderem das Rialto im Sommer 2013 bis auf den letzten Sitz füllte.
Im September 2017 veranstaltete das Kollektiv zusammen mit dem Kommunikationsbüro morgen. in der großen Halle der Wilhelmsburger Zinnwerke selbst einige gut besuchte Kinoabende mit einem bunten Rahmenprogramm, von der DJ-Beschallung zum Musikfilm “Frank” bis zum Food-Market zur Kommödie “Kiss the Cook”.
Aus der Wiedereröffnung des Rialto schöpft er mehr Energie als Stephan Reifenrath. Der Erfolg veranschaulichte für ihn das riesige Potenzial der Insel, die er als eine 55.000-Einwohner-Stadt definiert. Für ihn ist klar: Jede Stadt in dieser Größenordnung hat ein eigenes Kino, also braucht Wilhelmsburg auch eins. „Aber solche Kinos müssen alles leisten – vom Blockbuster Actionmovie bis zum lokalen Dokumentarfilm. Dann würde es sich rechnen“, meint er.
Auf der Suche nach neuen Wegen
Dafür sei es notwendig, die Vorteile des Kinos zu nutzen. Zum Beispiel sei die Hemmschwelle tiefer als beim elitär wirkenden Theater. Kino ist für ihn der größte gemeinsame Nenner, wenn es darum geht, ein kulturelles Grundangebot in einen derart diversen Stadtteil zu bringen.
Aber auch Reyes-Loredo weiß um die bürokratischen Hürden, die er als teilweise viel zu hoch erachtet: „Natürlich sollte beim Brandschutz nicht gespart werden, aber die Stellplatzvergabe muss überdacht werden.“ Auf der Insel mit dem Auto zum Kino fahren, wäre für ihn keine Option.
Eine inhaltliche Neuausrichtung sei aber ebenso notwendig. Bisher hätten alle Kinobetreiber die Chance verspielt, diese ethnisch diverse Community vor Ort anzusprechen und türkische, portugiesische oder afrikanische Filme zu zeigen. Musiker Eddy Winkelmann hält es sogar für möglich, dass das Rialto eine Chance gehabt hätte, wenn es schon in den 80ern internationalere Filme gezeigt hätte.
Und bei noch einer Sache sind sich Film- und Liedermacher einig: Ein Kino in Wilhelmsburg kann Erfolg haben, wenn ein innovatives Konzept entwickelt wird. Nur wenige Betreiber trauen sich, aus den gewohnten Bahnen auszubrechen und ein Kino für andere Dinge als Filmvorführungen zu nutzen.
Für Winkelmann muss die Entwicklung unten beginnen: „Menschen aus dem Viertel müssen sich organisieren und mit einem multikulturellen Konzept an die Behörden herantreten“, sagt er. Er kenne jedenfalls viele, die ein solches Kino in Wilhelmsburg begrüßen würden. Und Reyes-Loredo erklärt enthusiastisch, dass es noch mehr Ideen bedarf, um Leute anzuziehen: „Die Institution Kino muss weiter geöffnet werden, aber dafür braucht es Pioniergeist. Natürlich stecken da Risiken hinter, aber die muss man eben auf sich nehmen, um etwas Neues zu schaffen.“