Manuela Küchenmeister hat das „Dinner in the Dark“ vor 17 Jahren gegründet. Die Zweifel, ob das Konzept klappt, waren damals groß, sagt sie. Heute ist das Dinner eine Institution in Hamburg. Eine Geschichte von Heiratsanträgen im Dunkeln, leuchtendem Lachs und Gästen mit einem blinden Fleck.
Am Ende bleibt ein grelles Licht. Die Gäste blinzeln, tasten sich vorsichtig aus der Dunkelheit. Eine ältere Dame zückt ein Taschentuch und tupft sich die Mundwinkel ab. Aus einer Ecke dringt das gedämpfte Klirren von Geschirr. “Das, was wir machen, sensibilisiert. Wir hoffen, dass unsere Gäste ihre Erfahrung aus dem Dunkelrestaurant mit raus in die Welt nehmen”, sagt Manuela Küchenmeister, Initiatorin des “Dinner in the Dark”.
Es ist 22 Uhr. Gerade ist das “Dinner in the Dark” zu Ende gegangen. 25 sehende Gäste verlassen das Dialoghaus Hamburg, viele von ihnen lächelnd, einige grübelnd. Die große Frage an diesem Freitagabend: Was haben sie vorhin im Dunkeln verspeist? Und wie konnten die blinden Servicekräfte sie so souverän bedienen? Die Gedanken sausen. Draußen, in der Speicherstadt, tanzen die Laternenlichter auf dem Elbwasser.
“Wir wollen mit dem Dinner Barrikaden abbauen”, sagt Küchenmeister. “Außerdem bekommen die Gäste dadurch einen neuen Zugang zu Essen.” Die Diplom-Sozialpädagogin hat das “Dinner in the Dark” vor 17 Jahren in Hamburg gegründet. Zweimal die Woche treffen dort sehende Menschen auf nicht sehende Guides. Empfangen werden sie mit einem Sekt, elfenbeinfarben und süß. Danach gilt es, einen kleinen Parkour im Dunkeln hin zum Speiseraum zu bewältigen.
Während die Abendsonne hinter den Rotklinker-Fassaden versinkt, unternimmt das Dinner-Team die letzten Vorbereitungen. Dieses Mal hängt der pökelige Duft von Geschmortem in der Luft. “Momentan stehen bei uns deftige Hauptgerichte und Kürbis im Fokus”, erzählt Küchenmeister. “Das Menü ist saisonal.”
Der kulinarische Anspruch für das Dinner sei hoch; man arbeite seit Jahren mit dem Familienunternehmen “Lindner Feinkost” zusammen. Denn: “Im Dunkeln gibt es nichts, was vom Geschmack ablenkt.”
Keine Arbeitsplätze in der Gastronomie
Küchenmeister kocht selbst gerne und oft. Sie kreiert Menüs und hat schon einmal Schokoladenfondue mit Curry und Chili kombiniert. Und sie traut sich an Messer und Herd ran – obwohl sie nur zwei Prozent sieht. “Nicht sehende Menschen können genauso gut kochen wie sehende. Wir müssen bloß vorsichtiger arbeiten.”
Früher habe sie gerne Desserts angerichtet und dabei beobachtet, wie sich glatte Soßen um bunte Früchte schließen. Nach einigen Dinnern im Dialoghaus mehrten sich die Schübe ihrer Augenerkrankung. “Ich kann mich noch daran erinnern, wie die Farben verschwanden. Irgendwann wurden die Lichter auf dem Weihnachtsbaum undeutlich”, erzählt Küchenmeister. “Es war sehr belastend. Aber ich musste lernen, mit meiner Krankheit weiterzuleben.”
Die Krankheit, von der Küchenmeister spricht, heißt Retinitis Pigmentosa. In Deutschland leiden schätzungsweise 30.000 bis 40.000 Menschen daran. Betroffene erblinden schleichend, die Schübe kommen plötzlich. Die Erkrankung ist nicht heilbar.
“Die Aufklärungsarbeit, die wir mit dem “Dinner in the Dark” leisten, ist uns sehr wichtig. Es gibt viele Vorurteile gegenüber nicht sehenden Menschen und entsprechend werden wir oft unterschätzt”, sagt Küchenmeister. “Es ist zum Beispiel nicht selbstverständlich, dass wir Arbeitsplätze in der Gastronomie finden.”
Das Dinner: nicht nur Entertainment
Von Dunkelrestaurants und Dunkelcafés erfährt die 48-Jährige das erste Mal, als sie im Internet stöbert. Das Büro des Dialoghauses befindet sich zu dem Zeitpunkt noch auf dem sechsten Boden des Backsteinbaus, direkt unter dem Dach. Küchenmeister recherchiert und macht Notizen, überlegt, wie sie Dunkeldinner nach Hamburg holen kann. “Es gab schon damals auf der ganzen Welt Projekte dieser Art. Ich wollte unbedingt etwas Ähnliches hier anbieten.”
Trotzdem gibt es Zweifel. Ein Dunkeldinner könne missverstanden werden, befürchten Kolleg*innen. Zu groß sei das Risiko, dass mit dem Essen im Dunkeln gewitzelt werde und die Botschaft des Dialoghauses als Entertainment-Programm untergehe. Küchenmeister will es trotzdem versuchen.
Als das erste Dinner ansteht, ist die Aufregung groß. “Man macht sich viele Sorgen, ob die Idee dahinter überhaupt ankommt. Und ob den Leuten die Erfahrung gefällt.” Doch die Gäste sind begeistert. Konzentriert klappern sie mit dem Besteck den Teller ab, versuchen Früchte und Marinaden zu erschmecken. Nach dem Essen trauen sich einige von ihnen, die Guides auf ihr Leben anzusprechen.
Wie es ihr ergangen sei, als nicht sehende Mutter ihr Kind aufzuziehen, fragt etwa ein Besucher Küchenmeister. “In solchen Momenten merkt man, dass die Gäste wirklich etwas mitnehmen wollen.”
“Ihr seid gar nicht blind”
Immer mehr Pärchen, Familien und Firmen buchen in den Jahren darauf die Veranstaltung. Vereine feiern im Dialoghaus ihr Jubiläum, eine ahnungslose Dame ertastet auf ihrem Dessertteller einen Verlobungsring. Lachstatar, so lernt das Dinner-Team, leuchtet leicht, wenn der fette Fisch mit den anderen Zutaten fluoresziert.
Doch es gibt nicht nur positive Überraschungen. “Wir hatten auch Gruppen, die den Sinn hinter dem Dunkeldinner nicht verstanden haben”, sagt Küchenmeister. “Meistens waren das ahnungslose Menschen, die das ‘Dinner in the Dark’ als Gutschein geschenkt bekommen haben.” Gäste, die sich betranken, habe es zum Beispiel gegeben oder argwöhnische Besucher*innen, die den Guides vorwarfen, in Wirklichkeit gar nicht blind zu sein.
Für die Guides ein schmerzhafter Schock. “Wir bieten Schulungen an und nach jedem Dinner eine Nachbesprechung. Dann können wir uns austauschen, wie es uns damit ergangen ist und wie wir auf solche Situationen reagieren.”
“Ihr habt doch sowieso Nachtsichtgeräte auf”
An diesem Abend arbeitet Raman Goswami als Guide beim “Dinner in the Dark”. Mit ruhiger Stimme erklärt der Student, wie er die Getränke im Dunkeln abrechnet und das richtige Wechselgeld ausgibt. Er weist auf die Riffelungen der Münzen hin und hantiert mit einer Schablone, um die Scheine einzuordnen.
In der Vergangenheit habe es Gäste gegeben, die sich geweigert hätten, im Dunkeln zu bezahlen, erzählt Küchenmeister. “Wir müssen dann mit Geduld rangehen und den Leuten erklären, dass wir beim Einkauf im eigenen Alltag auch mit Geld umgehen müssen.”
Von Hamburg nach Moskau
Goswami will später an Gymnasien unterrichten. Er arbeite gerne mit Menschen, sagt er, und reise in seiner Freizeit viel. “Viele fragen mich, was das Reizvolle am Reisen ist, wenn man nicht sehen kann. Aber das Wetter, die Sprache, die Musik und das Essen sind nicht nur visuelle Reize. Ich kann die Atmosphäre erleben, auch wenn ich nicht sehen kann.”
Erst im März habe der 30-Jährige auf dem Roten Platz in Moskau gestanden und dem Treiben der Menschenmassen gelauscht. Es sei ein warmer Frühlingstag gewesen, der erste in diesem Jahr. Goswami sah die Menschen tanzen, er sah die Musikinstrumente und die lachenden Gesichter. Seine Augen brauchte er dafür nicht.
Die Gäste hören ihm gebannt zu. Sie kichern über ihre eigene Unbeholfenheit und tasten fleißig. Und sie ertasten Dinge, die sie so noch nie gesehen haben: die abgestumpfe Innenfläche des Dessertlöffels zum Beispiel oder die filigranen Fächer der Fenchelblätter in ihrem Salat. “Ich wusste gar nicht, dass ich so viel mit meinen Händen sehen kann”, sagt ein Gast.
Als ich rausgehe, höre ich zum ersten Mal das leise Plätschern der Kanäle. Der Wind pfeift, ich spüre den abgeschliffenen Kopfstein unter meinen Sohlen. Und ich habe das Gefühl, dass mein Blick auf die Welt klarer geworden ist.