Zwischen Afghanistan und Deutschland liegen 7000 Kilometer. Hassan Sarwari hat sie einst überwunden. Als minderjähriger, unbegleiteter Geflüchteter brauchte er zunächst Hilfe. Bald schon unterstütze er andere. Jetzt, in der Corona-Krise, freut er sich, erneut helfen zu können.
Nach monatelanger Flucht kommt Hassan Sarwari 2013 als minderjähriger, unbegleiteter Geflüchteter in Deutschland an. „Das war an Weihnachten“, erinnert er sich. Die ersten Jahre wohnt er in einem Jugendwohnheim in Krefeld. Hier lerne ich Hassan kennen. Er ist mir sympathisch: höflich, hilfsbereit, bescheiden – und schüchtern. So schüchtern, dass er die ersten Wochen im Heim lieber Brot isst, anstatt zu fragen wie man eine Gabel nutzt, um Spaghetti so aufzudrehen, dass sie es bis zum Mund schaffen. Die langen Nudeln hat er vorher noch nie gesehen.
FINK.HAMBURG hat 24 Menschen gefragt, wie sich ihr Leben durch die Corona-Krise verändert hat. Geführt haben wir die Gespräche via Skype, Zoom, im engsten Bekanntenkreis, denn wir mussten Abstand halten. Herausgekommen sind dennoch Nahaufnahmen von Hebammen, Lehrkräften, Krankenpfleger*innen, Studierenden. Sie zeigen, wie herausfordernd das Virus für den beruflichen und privaten Alltag ist und wie Neuanfänge gelingen.
Heute ist Hassan 25 Jahre alte und deutlich selbstbewusster. Als ich ihn im April frage, ob ich ihn für FINK.HAMBURG porträtieren dürfe, willigt Hassan sofort ein. Ich könne ihn auch googeln, sagt er stolz. Schon dreimal wurde er in Zeitungsartikeln erwähnt. Wir sitzen im Garten meiner Eltern, essen selbstgebackenen Apfelkuchen und trinken Kaffee, Hassan mit viel Zucker und Milch. Als Hassan noch im Wohnheim lebte, unterstützte meine Mutter ihn als Betreuerin, heute hilft er meinen Eltern. Letztes Jahr hat er den alten Gartenzaun gestrichen. Die dunkelbraune Farbe des Zaunes wird sich wohl nie mehr aus seinem graumelierten Pullover waschen.
Flucht vor den Taliban
Seine Kindheit verbringt Hassan in Afghanistan. In einem Dorf, nicht weit von Dschalalabad, ländlich, in der Nähe der Berge. Hier mahlt er das Getreide der Nachbarn zu Mehl. Ein alter Dieselmotor hilft ihm dabei, bis dieser irgendwann nur noch knallt und raucht. Einmal steht Hassan auf dem Dach seines Hauses. Militärflugzeuge sausen über seinen Kopf hinweg. Sie sind auf dem Weg die Schule der Stadt zu bombardieren, in der sich eine Gruppe Taliban verschanzte. Die Taliban sind auch der Grund, warum Hassan seine Mutter und die Geschwister verlässt und Richtung Europa flüchtet.
Mit 16 Jahren besucht er zum ersten Mal eine deutsche Schule. Eine Schule, in der man den Satz des Pythagoras lernt und „Das fliegende Klassenzimmer“ von Erich Kästner liest. Hassans Schule in Afghanistan hatte nur eine Schullektüre: den Koran. Nach drei fordernden Jahren mit Deutsch, Mathe und Englisch schafft Hassan seinen Hauptschulabschluss.
Ein „Glücksfall“
Als er volljährig wird, zieht Hassan in seine erste eigene Wohnung, eine Ein-Zimmer-Wohnung, in der die blaue Schlafcouch den größten Teil des Raumes einnimmt. Regelmäßig besucht er das Café Sara, eine Anlaufstelle für Geflüchtete. Dort arbeitet er ehrenamtlich und unterstützt die Besucher bei allem, wofür er selbst einmal Hilfe brauchte – Behördengänge, Arztbesuche, Papierkram.
2016 darf er, nach einer Fortbildung, auch hauptamtlich als Sprach- und Kulturvermittler in einer Einrichtung für unbegleitete, minderjährige Geflüchtete arbeiten. Sein damaliger Chef bezeichnet den 20-jährigen als „Glücksfall“. Und Hassan ist nicht mehr auf die Hilfe des Staats angewiesen, das ist ihm wichtig. Der junge Afghane unterstützt die Jugendlichen bei ihrer Ankunft und zeigt ihnen, was für die Integration in Deutschland wichtig ist. Dass sie zum Beispiel 20 Euro Strafe zahlen, wenn sie auf dem Fahrrad telefonieren, hätte Hassan auch lieber schon vorher gewusst.
Acht Tage arbeitslos
Heute sind die jugendlichen Geflüchteten, die er in der Einrichtung betreut, volljährig. „Es kommen nur noch wenig Jugendliche nach Deutschland“, sagt Hassan. Ende März muss die Einrichtung schließen. „Anfang April war ich für acht Tage arbeitslos, dann habe ich einen Anruf gekriegt.“ Seine Chefin habe einen neuen Job für ihn. Die Einrichtung, die vor acht Tagen schließen musste, eröffnet jetzt mit neuem Konzept: Gesunde Kinder von Covid-19 erkrankten Eltern sollen dort einziehen, solange ihre Familien in Quarantäne sind.
Hassan ist jetzt kein Sprach- und Kulturvermittler mehr, sondern Betreuer. Bevor die Kinder einziehen können, wird das Heim noch einmal renoviert. „Natürlich helfe ich mit“, sagt Hassan, als sei es eine Selbstverständlichkeit. „Ich habe schon alles geputzt und streiche die Wände.“ Die neuen Bewohner werden jetzt keine Jugendlichen mehr sein, die nach langer Flucht ein neues Leben versuchen zu beginnen, sondern Kinder ab vier Jahren. Sie haben Eltern, ein Zuhause und vielleicht auch Heimweh. Spielen, Essen, Schlafen – und das alles mit Mundschutz und Handschuhen. Aber Hassan könne gut mit Kindern umgehen, „auch mit den Kleinen“, ergänzt er.
Als Jugendlicher war Hassan auf die Unterstützung Deutschlands angewiesen. Heute braucht Deutschland ihn. Zunächst bei der Betreuung und Integration Geflüchteter, jetzt um Kinder vor häuslicher Ansteckung mit dem Corona-Virus zu schützen. Für die nächsten Wochen und Monate hat er wieder einen Job.
Für die Zeit nach der Pandemie habe er noch keinen Plan. Während Hassan diesen Satz ausspricht, senkt er seinen Blick und beginnt leicht zu schmunzeln. Es scheint als hätte er vielleicht doch schon eine Idee, die er sich nur nicht traut auszusprechen.