Corona-Maßnahmen: Während in Deutschland Lockerungen beschlossen werden, spitzt sich die Lage in den griechischen Flüchtlingslagern weiter zu. In Hamburg demonstrierte die Bewegung Seebrücke für die sofortige Evakuierung.
„Für jeden Menschen, der in Moria sein muss, fordere ich: Grenzen auf!“ ruft Dariush von Iuventa 10. Man hört seine Stimme, die über ein Band abgespielt wird. „Fast 1.000 unbegleitete Kinder leben in Moria. Unbegleitet! Das sagt sich so einfach, aber es bedeutet so viel. Könnt ihr euch vorstellen, ein zehnjähriges Mädchen zu sein und in einem Lager leben zu müssen? Was ist das für eine Kindheit?“
Es ist Samstag, der 23. Mai 2020. Vor dem Hamburger Rathaus stehen rund 300 Personen, jeweils 2,5 Meter voneinander entfernt. Mit Kreide sind die Positionen auf dem Boden markiert. Vorne steht ein Transporter, der mit Lautsprechern bestückt ist. Im Hintergrund ein Banner: „Hamburg, übernimm Verantwortung: Griechische Lager evakuieren“. Die Bewegung Seebrücke hat zum europaweiten Aktionstag aufgerufen.
Ein Wasserhahn für Tausende
Hintergrund der Proteste ist die katastrophale Situation in den griechischen Lagern in Corona-Zeiten. Im Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos sind mittlerweile über 20.000 Menschen untergebracht. Platz ist eigentlich nur für 3.000 Menschen. Einen Sicherheitsabstand und Hygienevorschriften einzuhalten, ist so unmöglich. Tausende Menschen teilen sich einen Wasserhahn.
Vor einigen Wochen brach im Lager die Krätze aus. Immer wieder kommt es zu Gewalttaten, Auseinandersetzungen und Bränden innerhalb des Camps. Griechenland verhängt aufgrund der Corona-Pandemie eine Ausgangssperre – es darf nur noch eine Person pro Familie das Camp am Tag verlassen. Während sich der restliche Teil der Welt in seinen Häusern verbarrikadiert, ist klar: Auf den griechischen Inseln tickt eine Zeitbombe.
Mit der Ausbreitung des Virus steigt auch die Sorge um die Menschen, und die Angst vor einer humanitären Katastrophe: einem Massensterben. In Europa versuchen Aktivisten ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Die Botschaften “evacuate now” und “leave no one behind” hängen mittlerweile auch in Hamburg an vielen Balkonen, sind auf Straßenböden gesprayt, und kursieren als Hashtags im Internet.
Seebrücke Hamburg fordert im Rahmen des Aktionstages von der Stadt Hamburg ein Landesaufnahmeprogramm für mindestens 1.000 Geflüchtete zu initiieren. Der Platz sei da. Christoph Kleine von Seebrücke Hamburg nennt es ein „zynisches Spiel mit der Gesundheit von Leuten”, nicht tätig zu werden. “Das muss aufhören. Hamburg kann es und Hamburg soll es tun.“
Viel Aufmerksamkeit, wenig Veränderungen
Die internationale Bewegung Seebrücke entstand im Juni 2018, als das Seenotrettungsschiff „Lifeline“ mit 234 Menschen an Bord in keinen europäischen Hafen einlaufen konnte. Aktivist*innen schlossen sich daraufhin zusammen, um sich gegen die Kriminalisierung der Seenotrettung einzusetzen. In den vergangenen zwei Jahren ist die Bewegung gewachsen, genauso wie die Aufmerksamkeit für das Thema. In der europäischen Politik habe sich allerdings wenig getan, sagt Kleine. Die Coronakrise habe die Situation wieder verschärft.
Ein schreiender Widerspruch
In Zeiten der Pandemie aktiv zu werden, ist mit Herausforderungen verbunden. Die Kundgebung am Rathausmarkt wurde zunächst von der Polizei Hamburg verboten. Die Seebrücke Hamburg klagte dagegen und gewann. Am Vorabend dann die Nachricht: Statt 900 sind jetzt nur noch 300 Teilnehmer*innen erlaubt. Alles unter Einhaltung strenger Auflagen. Die Demonstration findet trotzdem statt.
„Es ist ein schreiender Widerspruch, mit wie viel Pedanterie daran gegangen wird, hier Abstände zu vermessen, während gleichzeitig geflüchtete Menschen in Lagern dicht gedrängt aufeinander hocken!“, ruft Kleine zu Beginn der Kundgebung wütend in das Mikrofon. Durch den Mundschutz erfordert das Reden sichtlich mehr Anstrengung. Trotzdem nehme die Gruppe die Bestimmungen ernst, das betont er mehrfach. Man sei kein*e Gegner*in von Sicherheitsmaßnahmen.
Wenn man nicht mit den Schwächsten beginnt, endet man immer im Elend
Unter den Demonstrant*innen ist auch Doris Schneider, Mitglied des Internationalen Auschwitz-Komitees (IAK), das von NS-Überlebenden gegründet wurde. “Gegen das Virus hilft Abstand”, so Schneider. Dass das in den Flüchtlingslagern nicht eingehalten werden kann, bringt sie heute auf die Straße. “Wenn man nicht mit den Schwächsten beginnt, endet man immer im Elend”, sagt sie. “Heute sind es die Geflüchteten und die Obdachlosen, die am schlechtesten dran sind. Und deshalb haben sie unsere Solidarität.”
Auch Jonas Schlotterbeck und Anatol Pabst demonstrieren mit. „Es ist ein Armutszeugnis, dass wir als Europäer, die in absolutem Wohlstand leben, nicht in der Lage sind, Menschen auf der Flucht zu helfen”, sagt Schlotterbeck. Statt Grenzen sollten lieber Menschenleben geschützt werden.
Nach knapp eineinhalb Stunden ist die Kundgebung vorbei, die Banner werden eingerollt. Schnell leert sich der Platz wieder. Was bleibt, sind die Kreidezeichnungen auf dem Boden mit der Forderung „Leave No One Behind“: Lasst niemanden zurück.