Auf der Plattform “Lern-Fair” geben Studierende kostenlos online Nachhilfe für Schüler:innen. Yreen Göpfert ist eine der Helfer:innen, sie unterstützt regelmäßig eine Zweitklässlerin beim Lernen.
Yreen Göpfert sitzt an einem Holztisch ihrer lichtdurchfluteten Ein-Zimmer-Wohnung in Hamburg-Eppendorf. Die Wohnung ist angenehm aufgewärmt. Vor sich hat die 21-Jährige einen aufgeklappten Laptop positioniert, in dem Fenster ihres Bildschirms sieht sie sich selbst. Es ist 14:59 Uhr.
Ein zweites Fenster auf dem Bildschirm öffnet sich. Ein Mädchen taucht auf, circa acht Jahre alt. Elena* sitzt auf einem für sie viel zu großen Bürostuhl. Die Webcam ist von oben auf das Mädchen gerichtet. Sie macht Mundbewegungen, aber es ist kein Ton zu hören. „Du musst erst das Mikrofon anmachen“, sagt Göpfert. Ein schüchternes „Hallo“ ertönt aus den Laptop-Lautsprechern. Das Mädchen lächelt.
Online-Nachhilfe: Improvisation ist gefragt
Göpfert gibt seit zwei Monaten kostenlos Online-Nachhilfe. Schon unter normalen Umständen eine neue Erfahrung für die Geografie-Studentin. Während einer globalen Pandemie ist diese Art des Engagements eine noch größere Herausforderung. Statt sich mit Schüler:innen regelmäßig von Angesicht zu Angesicht zu treffen, geht Göpfert die Schulaufgaben mit ihrer Schülerin per Videochat durch. Anstelle von mitgebrachten Aufgaben in Büchern und auf Arbeitsbögen muss sie nun selbst Schulstoff organisieren. Aus dem Internet. „Elena hat einfach kein Material, mit dem sie arbeiten kann“, sagt Göpfert. „Wir machen das jetzt seit zwei Monaten und die Unterlagen, die wir heute durchgehen, sind dieselben seit Tag eins. Ich merke, dass da nicht viel von der Schule kommt.“ Vor sich haben die beiden ein Arbeitsblatt mit englischen Vokabeln.
Pflege, Politik oder Sport: Viele Hamburger:innen zeigen gesellschaftlichen Einsatz – und das auf ganz unterschiedliche Weise. FINK.HAMBURG erzählt die Geschichten von 25 Menschen – etwa einem Rikschafahrer, der Senior:innen kutschiert oder einem Pfarrer, der Predigten im Internet versteigert. Das ist alles andere als langweilig, Ehrensache.
Elena geht in die zweite Klasse. Sie ist dünn, hat dunkle Augenränder und braunes Haar, das mit rosa Haargummis zu zwei Zöpfen fixiert wurde. „Na, wie geht’s?“, fragt Yreen. „Gut“, antwortet Elena knapp. Neben ihr, nicht von der Webcam eingefangen, scheint ihre Mutter Platz genommen zu haben. Sie spricht mit russischem Akzent. Die Familie stammt aus Kasachstan.
Seit März 2020 existiert die Online-Nachhilfe “Lern-Fair”, die bis vor Kurzem „Corona School“ hieß. Vier Studierende aus Bonn entwickelten im Rahmen eines Hackathons unter Schirmherrschaft der Bundesregierung eine Plattform für kostenlose Online-Nachhilfe, auf der sich Schüler:innen registrieren können. Im Mai gründeten die Freunde einen gemeinnützigen Verein, der ein Jahr später rund 14.000 ehrenamtliche Helfer:innen zählt. Die meisten von ihnen geben Nachhilfestunden für Einzelne, manche bieten aber auch Unterstützung bei Schulprojekten an. Eine der Freiwilligen ist Yreen Göpfert. Die junge Frau ist zierlich gebaut, hat braune Haare und eisblaue, wache Augen. Ihr Lächeln ist freundlich, vertrauenswürdig.
Göpfert und Elena kennen einander, das merkt man. Die Achtjährige strahlt, Elena scheint sich auf die Nachhilfe gefreut zu haben. Die beiden bearbeiten Aufgaben in den Fächern Englisch und Deutsch. Fachlich fällt es dem Mädchen nicht besonders schwer – „glue stick“, „book“, „scissors“, „rubber“. Man hat das Gefühl, dass es um Betreuung geht. Dass jemand da ist, der sich mit ihr hinsetzt und ein wenig Zeit mit ihr und den Aufgaben verbringt.
„Ich glaub’ schon, dass du das schaffst“
Göpfert hatte vor ihrem Engagement für „Lern-Fair“ keine Erfahrungen als Nachhilfelehrerin. Dass ihr die ehrenamtliche Arbeit Freude bereitet, wusste sie dennoch vorher. Zu ihrer Schulzeit engagierte sich die junge Frau in der evangelischen Kirchengemeinde ihrer Heimatstadt Kappeln, ein 8500 Einwohner zählenden Städtchen an Schleswig-Holsteins Ostseeküste. Sie wirkte am Konfirmandenunterricht mit oder organisierte Freizeitprogramme für 12- bis 14-Jährige. „Das hat sich durch die Schule so ergeben, viele meiner Freunde haben das auch gemacht“, sagt sie. „Zu Beginn war es eher ein Hobby als ein Ehrenamt. Dann habe ich gemerkt, dass es sich gut anfühlt, etwas unentgeltlich zu machen.“
Sie zog nach Hamburg für ihr Studium. Der Wunsch, weiterhin ehrenamtlich tätig zu sein, zog mit. Bald darauf kam Corona. Göpfert stieß über Suchmaschinen auf „Lern-Fair“, bewarb sich mit Fächern und Jahrgangsstufen, die sie unterrichten möchte. Kurz danach meldeten sich die Organisatoren, luden sie zu einem virtuellen Bewerbungsgespräch ein und beide Seiten klärten Formelles ab. Anschließend „matchte“ die Plattform Göpfert und die Mutter von Elena, ihre Gesuche stimmten überein. Seitdem treffen sich die Studentin und Elena einmal wöchentlich im Videochat für eine Stunde nachmittags, länger kann sich die Zweitklässlerin nicht konzentrieren.
Nach 25 Minuten legt Göpfert einige Minuten Pause ein. Verdient, denn Elena hat die Aufgaben über die vergangene Woche verinnerlicht. Sie wird aber auch schlicht ein wenig unkonzentriert. In der Pause bleibt Zeit, um weitere Aufgaben aus dem Internet zu suchen. Göpfert stößt auf eine englische Übersicht mit Tieren. „Wie erkläre ich ihr denn jetzt, was ein Molch ist?“
Als das Mädchen wieder in die Aufgaben vertieft ist, ermutigt sie die Grundschülerin immer wieder. „Meinst du, dass du die Tiere jetzt allein auf Englisch aufzählen kannst?“
„Nein, das schaff’ ich nicht.“
„Doch, ich glaub’ schon, dass du das schaffst.“
Göpfert wählt fünf Tiere aus und lässt sie Elena auf Englisch vorlesen. „Nicht den Mut verlieren.“ Sie möchte nicht nur in den Schulfächern unterstützen, sondern auch für Motivation bei ihrer Schülerin sorgen. So, wie sie es sich selbst wünschen würde.
Solidarität als Motivation
Seit Göpfert studiert, ist ihr das Thema Bildungsgleichheit wichtig geworden. Sie stammt aus einem Nichtakademikerhaushalt. In der Schule war ihr nicht bewusst, dass der Bildungsgrad der Eltern noch immer über die Bildung ihrer Kinder mitbestimmt. Sie merkte dort noch keinen Unterschied zu anderen.
Als sie mit ihrem Studium anfing, änderte sich das. „Alle meine Kommilitonen haben bei der ersten Hausarbeit ihre Eltern, Geschwister, Onkel drüberlesen lassen“, erinnert sie sich. „Ich dagegen hatte keine andere Möglichkeit als meine Kommilitonen zu fragen, die genauso wenig Ahnung hatten wie ich.“ Sie zieht den Vergleich zur Schule. „Wenn ich als Schülerin in der aktuellen Situation aus einem Haushalt kommen würde, in dem Hilfestellungen schwer oder die finanziellen Mittel nicht da sind, würde ich so ein Angebot für kostenlose Online-Nachhilfe sehr zu schätzen wissen.“ Es wird klar, dass sie sich in Elenas Situation hineinfühlen kann, sich sogar selbst in einer ähnlichen Situation sieht. Solidarität als Motivation.
Es ist fast 16 Uhr, das aufgeweckte Mädchen schweift immer öfter ab. Göpfert fordert Elena noch ein letztes Mal auf, die ausgewählten Tiere auf Englisch aufzusagen. Sie wirkt zufrieden mit ihrer Schülerin und lächelt. Elenas Mutter kommt nun ins Bild, sie spricht mit Göpfert einen neuen Termin für die nächste Stunde ab.
„Würde es nächste Woche am Dienstagnachmittag gehen?“, fragt die Mutter.
„Dienstag ist es schlecht, aber Montag und Sonntag würde gehen.“
„Und wie ist es am Mittwoch?“
„Mittwoch passt.“
Elenas Mutter bedankt sich für die Hilfestellung bei den Aufgaben ihrer Tochter. Sie erzählt, dass sie befürchtet, ihrer Tochter in Englisch nicht gut helfen zu können. „Gott sei Dank haben wir dich.“
*Name geändert. Der echte Name liegt der Redaktion vor.