Viele Sportvereine bieten die kostenfreie Teilnahme an Sportkursen für ukrainische Geflüchtete an. Seit Mai finden beim ETV Eimsbüttel auch Sportangebote auf Ukrainisch statt.
Foto: Valentina Rössel
Dima Kyslyi steht im Studio fünf des Eimsbütteler Turnverbands e.V. (ETV) und teilt Hanteln aus. Ein oder zwei Kilo können die Teilnehmerinnen wählen. Es ist erst 10 Uhr, aber es wird schon warm im Backsteingebäude an der Bundesstraße in Eimsbüttel. Beim ETV steht heute “Functional Training” auf dem Plan – auf Ukrainisch.
Dima Kyslyi kommt aus Kiew, ist seit März in Hamburg und arbeitet als Fitnesstrainer. Er leitet den Kurs. Acht Ukrainerinnen sind heute gekommen, um gemeinsam Sport zu machen.
Kurse in ukrainischer Sprache
Der ETV ist einer der größten Sportvereine der Stadt. Bereits seit März können Geflüchtete die regulären Sportangebote des Vereins kostenfrei nutzen. Seit Mai bietet der ETV auch Sportkurse auf Ukrainisch an. Der Kurs von Kyslyi ist einer von zwei Angeboten, die immer donnerstags in Eimsbüttel stattfinden.
Berit Jensen, Mitarbeiterin des ETV, erzählt, dass ein Mitglied und ein Mitarbeiter des Vereins die geflüchteten Sporttrainer*innen bei sich aufgenommen haben. “Gemeinsam haben sie beim ETV angefragt, ob sie Kurse in ihrer Muttersprache geben können. Die Idee ist im Verein super angekommen.” Die Angebote seien Mitte Mai gestartet und würden seitdem gut angenommen – immer so um die zehn Anmeldungen pro Kurs.
Wer Gefallen am Sport beim ETV findet, kann ein Jahr beitragsfreies Mitglied werden. Die Vereinsaufnahmegebühr entfällt. Einzige Bedingung: Geflüchtete dürfen noch nicht länger als 15 Monate in Deutschland sein.
три, два, один (drei, zwei, eins) – „Pause“
In der einen Stunde bei Kyslyi werden auf den Matten Hampelmänner, Kniebeugen, Liegestützen und viele weitere Übung durchgezogen. Bei jeder Übung zählt Kyslyi von zehn bis eins runter: Десять, дев’ять, вісім, сім, шість, п’ять, чотири, три, два, один. Bei der Zahl eins angekommen sagt er “Pause” – auf Deutsch – und die Teilnehmerinnen atmen erleichtert aus.
Nach der Stunde erzählt Kyslyi, dass ihm Hamburg gefällt. Er spricht eine Mischung aus Englisch und Deutsch. “Die Menschen in Hamburg sind nett. Und das Wetter ist auch viel schöner, jetzt wo es weniger regnet”, sagt er auf Deutsch und grinst.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine macht sich auch in Hamburg bemerkbar. FINK.HAMBURG hat dazu in der Serie „Ukraine in Hamburg“ Reportagen und Porträts von Betroffenen zusammengestellt. In der Schule und im Ballett, unterwegs mit einer geflüchteten Influencerin und einem Tennisprofi aus Kiew – FINK.HAMBURG zeigt unterschiedliche Herausforderungen und Perspektiven, die mit dem Krieg zusammenhängen.
Zusammenkommen und „offline“ Sport machen
Den zweiten Kurs auf Ukrainisch leitet Sophia Lytvynchuk: Sie ist 20 Jahre alt und kommt aus Dnipro in der Ukraine. Im März ist Sophia Lytvynchuk nach Hamburg geflüchtet. Sie hat einen “Master of Sports” und gibt Unterricht für mehr Flexibilität und Dehnung des Körpers. Ihr Kurs “Stretch & Relax” findet jeden Donnerstag im Anschluss an den Kurs von Kyslyi statt.
Dieses Mal sind zehn Frauen im Kurs dabei, einige sind nach dem “Functional Training” geblieben. “Meistens ist die Gruppe ähnlich, viele kommen wöchentlich zu den Kursen”, sagt Lytvynchuk. Sie zeigt eine Dehnübung für die Beine, setzt sich selbst anschließend in den Spagat. Die Teilnehmerinnen verharren in ihrer Position. So beweglich wie Lytvynchuk ist sonst keiner.
Als Lytvynchuk in Hamburg angekommen ist, wollte sie sich nützlich machen. So habe sie angefangen, die Kurse zu leiten. “Sport kann den Menschen aus der Ukraine helfen. Die Bewegung fördert nicht nur die Fitness, sondern unterstützt auch dabei Gefühle zu verarbeiten — Sport macht den Kopf frei.”
Für Ukrainer*innen sei es aktuell auch wichtig in Gruppen zusammen zu kommen und Sport offline zu treiben. “Wir sprechen viel auf Englisch oder Deutsch. Da ist es schön, wenn man in Gesellschaft von Menschen mit der gleichen Muttersprache ist”, findet Lytvynchuk.
Ziel des ETV: Integration fördern und Barrieren abbauen
Der ETV möchte sein Sportangebot für Geflüchtete einfach und unbürokratisch gestalten. Karen Nakamura, Integrationsbeauftragte beim ETV, sagt: “Für die Menschen, die aus der Ukraine flüchten müssen, ist die Leichtigkeit ihres Lebens oft mit einem Schlag vorbei. Wenn sie nach langer Reise hier in Hamburg eintreffen, sollte sich ihr Ankommen so einfach wie möglich gestalten.” Man wolle “die aktive Teilnahme an Sport und Bewegung im Verein ermöglichen” und so einen Beitrag leisten.
Neben den Kursen auf ukrainisch gibt es ca. 300 “FitGym-Kurse” beim ETV, die ebenfalls ein Jahr lang kostenfrei von Geflüchteten besucht werden können. “Das Angebot wird gut angenommen und Geflüchtete und Vereinsmitglieder machen immer häufiger gemeinsam Sport”, so Jensen. Ziel bei den gemischten Kursen sei es, die Integration stärker zu fördern und die Menschen direkt zusammenzubringen.
Dass sich Sport gut für die Integration eignet, findet auch Sandra Witt. Sie ist seit über zwanzig Jahren Tanzlehrerin beim ETV: “Um gemeinsam Sport zu machen, muss man nicht die gleiche Sprache sprechen. Kommunikation funktioniert sehr gut über Gestik und Mimik. Man kann viel mit dem Körper zeigen.”
Neben dem Abbau der Sprachbarrieren kümmert sich der ETV auch um die Ausstattung der Geflüchteten. So hat Witt über die Jahre liegen gebliebene Trikots, Schläppchen und Strumpfhosen aufgehoben und zur Seite gelegt. Hier können sich geflüchtete Kinder vor der Tanzstunde etwas zum Anziehen aussuchen. Für Witt ist es wichtig, dass kein Kind je in die Situation gerät, sagen zu müssen: ‚So etwas habe ich gar nicht‘.
Hinweis: Für den Fall, dass im ETV-Fundus nicht das Richtige dabei ist, bietet der Helpstore von Hanseatic Help kostenfrei (Sport-)Kleidung für Geflüchtete an.
Wenn der Kopf nicht mitmacht
Trotz der Bemühungen, Sport für alle zugänglich zu machen, sind nicht alle schon bereit, Sport zu machen. So ging es auch Maria*. Sie ist neun Jahre alt und kurz nach Kriegsbeginn mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Hamburg geflüchtet. Zu Hause in ihrem Heimatort hat sie rhythmische Sportgymnastik gemacht, eine beliebte Sportart in der Ukraine. Im März war Maria bei Witt in einer Ballettstunde dabei.
Witt erzählt, dass es viel Spaß gemacht hat, mit dem Mädchen zu trainieren: “Bei Maria merkt man, dass das Training zu Hause ein bisschen härter gestrickt ist. Sie ist sehr weit für ihr Alter. Überbeweglich, fokussiert und konzertiert im Training.”
Auch die anderen Kinder haben sich gefreut, dass Maria beim Training mitgemacht hat. Nach einer Trainingsstunde ist Maria nicht wiedergekommen. Ihre Betreuerin informierte Witt, dass sich Maria nicht bereit fühlt, wieder Sport zu machen. Sie möchte im Moment nur bei ihrer Mutter sein.
Nakamura vermutet, dass bei einigen Geflüchteten der Krieg zu präsent ist: “Da ist der Sportkurs eben nicht immer das Erste, was einem in den Kopf kommt. Gerade bei Kindern ist das oft einfach zu viel für den Kopf.”
Große Hilfsbereitschaft unter den Hamburger Vereinen
Auch wenn nicht alle Sport machen wollen, so sind andere schon mit Spaß dabei. Allgemein gibt es in Hamburg eine große Hilfsbereitschaft unter den Sportvereinen, sagt Isabell Faßhauer vom Hamburger Sportbund: “Da der Großteil der Geflüchteten Frauen, Kinder und Jugendliche sind, richten sich die Angebote auch vorrangig an diese Zielgruppe.” Es gebe Anfragen aus diversen Bereichen: “Hockey, Fußball, Turnen, aber auch Sportarten, die dem osteuropäischen Raum entstammen – wie z. B. Gorodki, ein altes osteuropäisches Wurfspiel.”
Hinweis Versicherungsschutz: Die Sportversicherung ist auch ohne Mitgliedschaft beim ETV gedeckt. Mitgliedsvereine des Hamburger Sportbundes (HSB) können den geflüchteten Sportler*innen einen kostenlosen Versicherungsschutz anbieten. Dieser gilt sowohl für die Teilnahme am regulären Sportbetrieb als auch für spezielle Sportangebote für Geflüchtete, heißt es auf der Website des HSBs.
Hinweis zu Geflüchteten aus anderen Staaten: Das Angebot des ETV gilt ebenso wie die Versicherung über den HSB auch für Geflüchtete aus anderen Staaten, die noch nicht länger als 15 Monate in Deutschland sind.
*Name von der Redaktion geändert
Das Leben von Valentina Rössel, Jahrgang 1998, läuft in der Regel nach Plan. Für Abwechslung sorgen gelegentliche Abenteuer. Die 23-Jährige probiert gerne Neues: schläft im Outback am Lagerfeuer, reitet Wellen auf Bali, knuspert in Mexiko Heuschrecken. In Norddeutschland geboren, in Köln aufgewachsen, war Valentina schon immer klar, dass sie einmal in Hamburg landen wird. Ihre erste Station war die Pressestelle im Hamburger Rathaus. Dort hat sie als Praktikantin den Ersten Bürgermeister auf Pressetermine begleitet und Social-Media-Posts für den Senat erstellt. Zuvor studierte sie Sprache und Kommunikation in der globalisierten Mediengesellschaft kombiniert mit Medienwissenschaft in Bonn. Die Frage: „Wie viele Heuschrecken kannst du essen?“ war zwar nicht prüfungsrelevant, ihren Bachelor hat sie trotzdem gut bestanden. Kürzel: var