Foto: Maylin Rivero
Juan und Praise stammen aus Nigeria. Sie lebten jahrelang in Charkiw, der Stadt im Nordosten der Ukraine, die besonders stark von den Angriffen betroffen ist. Gekreuzt haben sich die Wege der beiden allerdings erst hier in Hamburg. Ihr neues, provisorisches Zuhause befindet sich in Bahrenfeld.
Essensgeruch strömt mir entgegen, als Juan die Haustür mit einem breitem Lächeln öffnet. Er trägt ein buntes Hawaiihemd mit Comic-Print, eine Cargohose und Sneaker. Die Wohnung macht einen modernen und hellen Eindruck. Aus der Küche am Ende des Flurs ist Gelächter und Musik zu hören. Eine schmale, zierliche Person in Jogginghose und hellblauem Hoodie und schwarzer Mütze bewegt sich zu den Afrobeats, die aus kleinen Lautsprechern dröhnen. Dass Tanzen seine Leidenschaft ist, ist Praise direkt anzusehen. Zusammen mit den anderen drei Mitbewohner*innen – ebenfalls Nigerianer*innen – bereitet er Abendessen zu.
Juan öffnet die Tür des Nachbarzimmers. Außer einigen Stühlen, aneinandergereihten Tischen und einer Stehleuchte ist der Raum leer. Juan setzt sich. Er möchte seine Geschichte teilen. Nach ihm ist Praise an der Reihe.
Ukraine: ein beliebtes Ziel für international Studierende
Vor Kriegsausbruch war die Ukraine für internationale Studierende ein attraktives Ziel. Die ukrainischen Universitäten galten als Sprungbrett in den europäischen Arbeitsmarkt: Das Studium konnte auf Englisch absolviert werden, und die Studiengebühren sowie die Lebenshaltungskosten waren vergleichsweise günstig.
Juans Eltern hofften auf bessere Perspektiven für ihren Sohn in Europa. Zuhause sei das Geld knapp gewesen. „Mit dem wenigen Geld was meine Eltern hatten, schickten sie mich in die Ukraine“, erzählt der 24-Jährige. Mit 16 Jahren, direkt nachdem er die Schule beendet hatte, ging er nach Charkiw, um sein Studium in Piloting zu starten.
Für Praises Mutter war ebenfalls die Aussicht auf eine erfolgreiche Zukunft der Antrieb, ihren Sohn in die Ukraine zu senden. Nigeria verließ Praise 2017 und studierte seitdem Medizin in Charkiw. Neben dem Studium unterrichtete er afrikanische Tänze in einer Tanzschule. Letztes Jahr hat der 22-Jährige das erste Staatsexamen bestanden, die finale Prüfung hätte er in zwei Jahren ablegen sollen. Er wollte langfristig in der Ukraine bleiben. Sein Asylantrag sei sogar schon anerkannt worden – die unbefristete Aufenthaltserlaubnis hätte er im April erhalten sollen. „Aber leider ist mir ein Strich durch die Rechnung gemacht worden“, die Enttäuschung steht Praise ins Gesicht geschrieben.
FINK.HAMBURG hat dazu in der Serie „Ukraine in Hamburg“ Reportagen und Porträts von Betroffenen zusammengestellt. In der Schule und im Ballett, unterwegs mit einer geflüchteten Influencerin und einem Tennisprofi aus Kiew – FINK.HAMBURG zeigt unterschiedliche Herausforderungen und Perspektiven, die mit dem Krieg zusammenhängen.
Entschluss zur Flucht
Am 24. Februar um 4 Uhr morgens lag Praise wach in seinem Zimmer in Charkiw. Ein Kumpel und dessen Schwester waren zu Besuch gewesen und übernachteten bei ihm. Die Schwester stürmte weinend in sein Zimmer. „Praise, wir müssen gehen, sie werden uns töten!“, habe sie panisch geschrien.
Auch wenn sich die politische Lage über die vergangenen Wochen zugespitzt hatte, war Praise optimistisch gewesen und hatte darauf gehofft, dass es nicht so weit kommen würde. „Ich wollte die Ukraine nie verlassen“, sagt er. Dass er keine andere Wahl hat, wurde ihm an diesem Morgen bewusst.
Juan befand sich in seiner Wohnung, als die ersten Bomben auf Charkiw fielen. „Ich wollte es nicht wahrhaben, ich wollte nicht gehen. Aber ich hatte große Angst. Ich bin gerannt und wusste nicht wohin“, sagt er mit geschlossenen Augen, als würde er sich in die Situation zurückversetzen. Er sei mit sieben anderen Personen in dem Keller eines Freundes untergekommen. „Die anderen wollten auch nicht gehen. Deswegen war ich mit ihnen, weil sie dieselbe Mentalität hatten: Was auch immer passiert, wir bleiben in der Ukraine, unserem Zuhause.“ Seine Einstellung hätte sich geändert, als er wenige Tage später die gesprengte Hausfassade sah.
Die nigerianische Regierung schickte insgesamt fünf Evakurierungsflugzeuge, um Nigerianer*innen in ihre Heimat zu bringen. Doch eine Rückkehr nach Nigeria war weder für Juan noch für Praise eine Option. Sie wollten unbedingt in Europa bleiben.
Sofort machte sich Praise zusammen mit seinen zwei Freunden auf den Weg zum Charkiwer Bahnhof. In der Eile und Panik nahm er kaum etwas mit, auch seinen Pass ließ er zu Hause. „Wir mussten am Bahnhof fünf Stunden im Regen warten, während die Bomben zu hören waren. Dann kam endlich ein Zug. Jeder hat versucht, einzusteigen. Der Zug war überfüllt. Wir hatten keine Chance reinzukommen“, erinnert sich Praise und schüttelt dabei wild den Kopf, sodass seine Locs schwingen. Um 21 Uhr hätten sie endlich in einen Zug nach Lwiw einsteigen können.
Juan, der zwei Tage später an dem Bahnhof war, zieht sein Smartphone aus der Tasche seiner beigen Cargohose. Er spielt ein Video ab, welches er vor Ort aufgenommen hatte. Auf dem kleinen, zerkratzen Bildschirm: eine unruhige Menschenmasse vor einem überfüllten Zug. Es wird gedrängelt, geweint, geschrien. Die Panik und Angst der Menschen ist trotz des kleinen Bilds deutlich zu spüren.
„Ich habe in dem Chaos mein Geld verloren, meine Uni-Zertifikate, meinen Pass und meine ukrainische Aufenthaltsgenehmigung.“ Unterhosen, Inhalator, ein Paar Schuhe und Jeans – mehr hätte sich nicht in Juans Tasche befunden, als er am 26. Februar in den Zug nach Lwiw stieg.
Mit dem Ziel nach Ungarn zu gehen, zog er von Lwiw aus weiter in die Grenzstadt Uschgorod. Dort hätte er aufgrund seiner fehlenden Papiere erst nicht in das Land einreisen dürfen, nach langem Flehen habe man ihn dann durchgelassen.
Praise hingegen fuhr mit seinen Freunden mit dem Taxi Richtung Polen. Weit kamen sie allerdings nicht – sie blieben im Stau stecken und entschieden sich dazu, zu laufen. „Wir hatten 13 Stunden Fußweg bis zur Grenze in der Kälte vor uns.“ Nach einiger Zeit war die Schwester seines Freundes zu erschöpft gewesen um weiterzulaufen. Die beiden drehten um nach Lwiw – Praise setzte die Flucht alleine fort.
Um fünf Uhr morgens sei er schließlich an der ukrainischen Grenze angekommen. Ukrainische Frauen und Kinder hätten Vorrang gehabt und die Grenze zuerst passieren dürfen, während die Schlange für die Ausländer*innen immer länger wurde. Nach langem Warten lief Praise eine weitere Stunde zur polnischen Grenze.
Rassismuserfahrung auf der Flucht
Juan besuchte unterdessen in Budapest die nigerianische Botschaft, um einen neuen Pass zu beantragen. Als dieser vier Wochen später fertig war, fuhr er nach Hamburg, wo sich bereits Freunde von ihm aufhielten.
Dass seine dunkle Haut einen Einfluss auf seine Fluchterfahrung hatte, denkt Juan nicht. Viel mehr hätte ihm der nicht vorhandene Pass die Flucht erschwert. Trotzdem meint er, dass weiße Ukrainer*innen gegenüber afrikanischen Personen mit Pass an der Grenze bevorzugt worden seien. Aber dafür hätte er Verständnis: „Sie sind diejenigen, die kein anderes Zuhause haben. Wir hingegen können jederzeit in unser Land zurückkehren.“
Praise sieht das ähnlich, hat aber rassistische Erfahrungen machen müssen: „Es ist Krieg in ihrem Land. Ich verstehe, dass einheimische Personen priorisiert wurden. Trotzdem sollte jeder fair behandelt werden.“
Vor allem an der polnischen Grenze sei mit ihm und anderen schwarzen Menschen schlecht umgegangen worden. Drei Tage hätte Praise draußen in der Kälte verbracht. Als er in der Schlange stand, habe er einen Asthmaanfall bekommen. „Ich bat den Aufseher um Hilfe. Aber anstatt mir zu helfen, tat er so, als hätte er mich nicht verstanden. Er drückte mich auf den Boden und sagte, ich solle zurück in die Schlange gehen.“ Teilweise hätten die Wachleute mit Schlagstöcken gezielt auf Schwarze eingeschlagen. „Nur schwarze Personen haben sie so behandelt“, sagt Praise und starrt ins Leere. „Ich wollte einfach nur noch weg von diesem Ort.“
Keine Papiere, viele Probleme
Angekommen an der Passkontrolle sei Praise wegen seiner fehlenden Dokumente in ein anderes Büro gebracht worden. Dort hätte er weitere zwei Tage gewartet – warum und worauf, wusste er nicht. Die Beamt*innen vor Ort konnten oder wollten keine Auskunft geben. „Ich schlief mit anderen Leuten in dem Büro auf dem Boden. Zweimal am Tag wurde uns Brot zum Essen gegeben.“ Am 3. März war Praise an der Reihe. Das Handyfoto von seinem Pass, das er dabeihatte, wurde ausgedruckt, dann durfte er gehen.
Am nächsten Tag zog er weiter nach Deutschland. Auf dem Weg nach Berlin stoppte der Zug in Frankfurt an der Oder. Die Polizei stieg ein und nahm Praise mit auf die Polizeistation, weil er keinen Ausweis vorzeigen konnte. Nachdem Praise die Nacht auf der Polizeistation verbracht hatte, sei er am nächsten Morgen nach Eisenhüttenstadt in die zentrale Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende gebracht worden, die er nach einer Woche verließ. Er nahm Kontakt zu einem Freund in Hamburg auf. Dieser schickte Praise eine Handynummer: „Komm nach Hamburg und ruf diese Person an. Sie wird dir helfen.“
Ankunft in Hamburg: Kampf mit den Behörden
„Diese Person“, das war Asmara, Initiatorin der Migrantenselbsthilfeorganisation „Asmaras World“. Auch Juans Freunde in Hamburg vernetzten ihn mit ihr. Damit Juan und Praise in Deutschland bleiben konnten, benötigten sie eine Fiktionsbescheinigung, also eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung. Es folgten Besuche bei der Ausländerbehörde. „Ohne Asmaras Hilfe hätten wir nicht gewusst, was zu tun ist“, sagt Juan.
Schon beim zweiten Anlauf erhielt er seine Fiktionsbescheinigung. Das war ein Glücksfall: „Viele meiner Freunde, Praise zum Beispiel, hatten nach dem fünften oder sechsten Termin ihre Fiktionsbescheinigung immer noch nicht.“ Die Behörden hätten etliche Beweise gefordert, die den Aufenthalt und das Studium in der Ukraine bestätigen.
Die fehlenden Originaldokumente erschwerten Praise den Prozess. Schließlich hätte er bei der nigerianischen Botschaft in Berlin einen neuen Pass beantragt. Asmara und die Geflüchteten machten Druck bei den Behörden und schließlich erhält auch Praise seine Fiktionsbescheinigung.
Aber die Fiktionsbescheinigung sei erst der erste Schritt gewesen. Mit Asmaras Unterstützung suchen Juan und Praise nun in Hamburg einen Weg, um ihre Ausbildung abschließen zu können – denn das sei ihre oberste Priorität.
Die Ukraine vermissen beide. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, möchten sie zurückkehren, sei es auch nur zu Besuch. „Ich habe die entscheidendsten Jahre meines Lebens in der Ukraine verbracht. Sie ist mein Zuhause. Sie hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin”, sagt Juan. Nichtsdestotrotz bleiben Juan und Praise optimistisch. „Deutschland ist ein neues Kapitel mit neuen Chancen“, da ist sich Praise sicher.