Homayoon Pardis bei seiner Lesung über seine Flucht aus Afghanistan
Homayoon Pardis bei seiner Lesung im Leethub e. V. für sein Buch "Papa, warum sind wir hier?" Foto: Chiara Bagnoli

Homayoon Pardis kam 2015 aus Afghanistan nach Hamburg. Heute fliehen wieder viele Menschen vor einem Krieg und suchen Schutz in Deutschland. Was hat sich verändert und wie gehen wir heute mit ukrainischen Geflüchteten um?

“Einige Wochen später saßen wir auch in einem dieser Schlauchboote. In unserem Boot war eigentlich nur Platz für zehn, maximal fünfzehn Leute. Wir waren siebzig Personen!”, so beschreibt Homayoon Pardis den Beginn seiner Flucht. Eine Frau im Publikum seufzt und raunt ein “Oh mein Gott”, als Pardis diese Passage vorliest. Das Publikum sitzt angespannt auf den bunt zusammengewürfelten Stühlen und hört schweigend zu. Vor ihnen sitzt Homayoon Pardis (37), der Autor des Buches “Papa, warum sind wir hier?”. Pardis floh 2015 mit seiner Frau Nadia und seiner damals zwei Jahre alten Tochter Parnian aus Afghanistan. Sein Buch erzählt die Geschichte seiner Flucht, Integration und dem Leben als Geflüchteter in Deutschland.

Die Lesung findet im Leethub auf St. Pauli statt. Der Raum wirkt wie ein großes Wohnzimmer. Die meisten Gäst*innen umarmen sich bei der Begrüßung. “Schön wieder hier zu sein!” Es gibt Getränke und kleine Snacks an der Bar. Hinter dem Tresen hängt ein Plakat mit #StaywithUkriane und der ukrainischen Flagge. Die Lesung ist die erste größere Veranstaltung des Vereins seit der Corona-Pandemie und gleichzeitig der Auftakt von Pardis Lesungsreihe. Hier im Leethub hat Pardis seine erste Stelle als ehrenamtlicher Mitarbeiter bekommen.

Fluchtbewegung aus der Ukraine

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine macht sich auch in Hamburg bemerkbar. FINK.HAMBURG hat dazu in der Serie „Ukraine in Hamburg“ Reportagen und Porträts von Betroffenen zusammengestellt. In der Schule und im Ballett, unterwegs mit einer geflüchteten Influencerin und einem Tennisprofi aus Kiew – FINK.HAMBURG zeigt unterschiedliche Herausforderungen und Perspektiven, die mit dem Krieg zusammenhängen.

Auch heute kommen wieder viele Menschen nach Deutschland und suchen Zuflucht vor dem Krieg. Wie viele Ukrainer*innen bisher nach Hamburg gekommen sind, lässt sich schwer sagen, da sich Schutzsuchende momentan 90 Tage ohne Registrierung in der EU aufhalten dürfen. Das Amt für Migration schätzt die Zahl der Ukrainer*innen in Hamburg auf rund 20.000 (Stand: Mai 2022).

Anfang März aktivierte die EU die “Massenzustrom-Richtlinie”. Ukrainische Geflüchtete müssen keinen Asylantrag stellen und genießen in der EU sofortigen Schutz, sie erhalten Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Sprachkursen, sowie finanzielle Unterstützung vom Staat. Diese Richtlinie gab es bereits 2015, doch aktiviert wurde sie damals nicht.

Die Hilfsbereitschaft in der aktuellen Fluchtsituation scheint immens zu sein. Menschen fahren an die polnisch-ukrainische Grenzen, um Geflüchtete abzuholen und Hilfsgüter abzuliefern, Organisationen werden mit Sachspenden überhäuft und der Staat setzt alle Hebel in Gang, um Geflüchtete besser aufnehmen zu können. Bürger*innen sind bereit, geflüchtete Ukrainer*innen bei sich zu Hause aufzunehmen. Als Vermittlungsplattform entstand die Webseite Unterkunft Ukraine Der Plattform zufolge haben seit Beginn des Angriffskriegs über 6.000 Hamburger*innen etwa 11.000 Betten für ukrainische Geflüchtete über die Webseite angeboten (Stand: Mai 2022).

Ankunft in Deutschland 2015/2016

Als Familie Pardis nach Hamburg kam, lebten sie zunächst in einem Erstaufnahme-Camp in Eidelstedt. Zwei Quadratmeter abgehängt mit Decken für etwas Privatsphäre und zwei Betten für drei Personen.

“Wir dachten, jetzt, wo wir angekommen sind, haben wir alle Probleme geschafft. Nun standen wir in diesem Provisorium und uns wurde schlagartig klar, dass das hier nicht unser Traum von Deutschland war. Soll das jetzt unser Leben sein? Mit dieser ersten Enttäuschung fertig zu werden, war hart.”

Es erwartete sie eine enorme Bürokratie und sehr viele Anträge. “Damals war das wirklich alles furchtbar. Das kann man jetzt nicht mit den Ukrainern vergleichen. Niemals. Wir sind zehn Monate jeden Tag aufgewacht und haben uns gefragt: ‚Was passiert? Welche Antwort bekommen wir? Sollen wir zurück? Bleiben wir? Was für eine Perspektive haben wir in der Zukunft?‘ Das war nicht einfach”, erinnert sich Pardis.

Nach drei Monaten bekam Homayoon Pardis eine Arbeitserlaubnis. Erst nach zehn Monaten erhielten sie eine Anerkennung ihres Asylantrags und offizielle Deutschkurse. Nach über einem Jahr und etwa vier Unterkünften hatte die Familie ihre erste Wohnung. Eine gute Freundin der Familie überließ ihnen ihre Büroräume. Trotzdem sagt Pardis, er habe oft Glück gehabt. Andere geflüchtete Familien warteten viel länger auf ihre Anerkennung und Papiere.

Homayoon Pardis an seinem Schreibtisch im Mitmacher Büro
Homayoon Pardis arbeitet heute bei der Organisation Mitmacher und hilft Geflüchteten ins Ehrenamt. Foto: Chiara Bagnoli

Pardis Flucht aus Afghanistan

Nach Angaben des Amts für Migration Hamburg kamen zwischen 2015 und 2016 über 31.000 geflüchtete Menschen nach Hamburg. Darunter 7.800 Afghan*innen. Darunter die Familie Pardis.

Die Organisation Mitmacher vermittelt Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund in ehrenamtliche Projekte, um Teilhabe und Integration zu befördern.

Heute arbeitet Homayoon Pardis für den Kultur Container in Eidelstedt und für die Organisation Mitmacher. Dort hilft er Geflüchteten, sich ehrenamtlich zu engagieren – wie er, als er nach Hamburg kam. In einem Konferenzraum der Organisation stapeln sich Spenden für ukrainische Geflüchtete. Kleidung, Rucksäcke, Kuscheltiere und Spielzeug ist in Tüten und Kisten zusammengepackt.

Homayoon Pardis im Büro von MitMacher
Homayoon Pardis im Büro von Mitmacher. Foto: Chiara Bagnoli

Pardis studierte an der Universität Herat Englische Literatur. Nach dem Studium war er für zahlreiche internationale Organisationen in Afghanistan tätig. Zuletzt als Projektleiter für die Internationale Organisation für Migration (IOM) der UN. Hierfür war er auch in Gebieten der Taliban tätig. In dieser Zeit häuften sich Kindesentführungen durch die Taliban, auch bei seinen Kolleg*innen. Pardis erhielt Drohungen von den Taliban. Daraufhin ließ er sich in den Innendienst versetzen. Er hoffte, die Situation würde sich wieder entspannen. “Wir versuchten, erst mal eine Lösung zu finden. Aber das konnten wir nicht. Deshalb haben wir entschieden, das Land zu verlassen”, erzählt er.

Zunächst flog die Familie von Kabul nach Istanbul. Damals dachten sie noch, sie könnten nach ein paar Monaten wieder zurück. Doch es gab keinen Weg zurück. In seinem Buch schreibt Pardis: “Unsere Flucht kannte keinen Tag und keine Nacht. Wir waren immer unterwegs. Parnian auf meiner Schulter und Nadia an meiner Hand […].” Sie waren knapp einen Monat unterwegs. Von der Türkei mit einem Schlauchboot nach Griechenland, von dort nach Deutschland. Mit dem Bus, Zug oder zu Fuß.

Realität für Geflüchtete aus den Vorjahren

Vieles war damals provisorisch. Daran erinnert sich auch Klaus Schomacker, einer der Mitbegründer der Initiative Hamburg für gute Integration. “Damals wusste man nicht so recht wohin mit den Menschen. Es gab damals eine Not an Unterkünften. Deshalb funktionierte man Messehallen und Baumärkte um”, erzählt Schomacker.

Gegen solche Massenunterbringungen setzte sich die Initiative 2016 mit Bürgerverträgen ein. Es sollten mehr Standorte mit kleineren Einrichtungen für Geflüchtete geschaffen und die Belegung von größeren Unterkünften reduziert werden. Für Schomacker ist damals wie heute klar: Erfolgreiche Integration funktioniert vor allem durch eine gerechte Verteilung und Unterbringung von Geflüchteten. Allerdings sind die Forderungen nach sechs Jahren immer noch nicht vollständig umgesetzt.

Klaus Schomacker steht vor den öffentlich-rechtlichen Unterkünften in Rissen. Hier war ursprünglich geplant, etwa 4000 Geflüchtete unterzubringen. Der Bau des geplanten Komplexes konnte jedoch – unter anderem aufgrund von bautechnischen Problemen – nicht vollständig umgesetzt werden. Heute wohnen hier 300 geflüchtete Menschen in etwa 120 Wohnungen.

Klaus Schomacker von der Initiative "Hamburg für gute Integration"vor der Unterkunft für Gelfüchtete in Rissen
Klaus Schomacker vor der Unterkunft für Gelfüchtete in Rissen. Foto: Chiara Bagnoli

Rissen ist der westlichste Stadtteil Hamburgs. Etwa 40 Minuten mit der S-Bahn vom Hauptbahnhof. Zur Unterkunft geht man entweder 20 Minuten zu Fuß oder fährt drei Stationen mit dem Bus. Die Straßen sind hier kaum befahren, nur Einfamilienhäuser, alles ist sehr grün. Die Unterkunft liegt hinter einem Klinikkomplex. Identische, weiße Wohnhäuser mit braunen Balkonen. “Im Durchschnitt bleiben die Menschen hier etwa drei Jahre – manche sogar noch länger. Eigentlich sollten die Familien hier nach etwa sechs Monaten eine eigene Wohnung finden, aber das ist bei der aktuellen Wohnsituation in Hamburg einfach nicht möglich”, erklärt Schomacker.

Profitieren wir heute von den Erfahrungen aus 2015?

Dennoch ist die Situation heute eine andere. Corinna Walter von Hanseatic Help erklärt: “Damals war alles viel chaotischer. Heute haben wir eine bessere Organisation. Alles läuft in geordneten Bahnen. Ich weiß, wen ich anrufen muss und wer was gebrauchen kann.” Beide Organisationen entstanden 2015 aufgrund der Fluchtbewegungen aus Syrien und Afghanistan und sind bis heute aktiv.

Klaus Schomacker zufolge läuft auch die Kommunikation in der aktuellen Lage besser. So konnte sich die Bevölkerung einfacher darauf vorbereiten. Auch die geografische und kulturelle Nähe der Ukraine rege laut Schomacker die Hilfsbereitschaft vieler Menschen an.

Pardis sieht das ähnlich: “Deutschland hat jetzt mehr Erfahrung als damals. Natürlich sehe ich auch: Wir sind unterschiedliche Menschen. Die Menschen aus der Ukraine haben zwar nicht die gleiche Kultur, aber sie haben die europäische Kultur. Aber wir haben eine ganz andere Kultur. Ich bin auch kritisch. Manchmal frage ich mich, wie die Politik heute so schnell über irgendwelche Leistungen entschieden kann. Warum konnten sie das damals nicht so schnell? Ich hatte zehn Monate keinen Job, keinen Sprachkurs. Integration war damals richtig langsam, wenn ich das mit heute vergleiche.”

Es kommt einmal Sonne in Afghanistan, es kommt Frieden.”

Er sei ein bisschen traurig, gibt Pardis zu, der Staat hätte damals auch schnell reagieren können. “Ich freue mich natürlich für die Menschen. Der Staat hat jetzt auch einfach mehr Erfahrung.” Er glaube nicht, das Rassismus eine Ursache dafür sei, dennoch spiele die Kultur wohl eine große Rolle: “Sie sehen anders aus als wir. Es sind viele Frauen und Kinder. Die Leute haben automatisch ein bisschen mehr Vertrauen. Aber wir kommen alle aus einem Land, in dem Krieg herrscht – und das ist immer im Kopf.”

Die Taliban übernahmen im August 2021 in Afghanistan die Macht. Für Pardis war damit klar: Es gibt keinen Weg zurück. Er und seine Familie warten momentan auf die Bestätigung ihrer Einbürgerung. Allerdings ist der Großteil seiner Familie noch in Afghanistan. Das Land zu verlassen, sei aktuell nahezu unmöglich.

Pardis sitzt in einem Sessel, die Beine überschlagen auf dem Schoß ein Notizbuch. Er sagt, er versuche immer das Positive zu sehen. Diese Einstellung hat er von seinem Vater übernommen. Der hat immer gesagt: “Es kommt einmal Sonne in Afghanistan, es kommt Frieden.” Den Glauben an Frieden in seiner Heimat hat Pardis aber verloren.