In Deutschland wird jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von Gewalt. Was tut Hamburg, um Frauen besser zu schützen? FINK.HAMBURG hat nachgefragt.

Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um Gewalt, Vergewaltigungen und Morde an Frauen und Mädchen (Femizide).

Von Valentina Rössel und Lina Gunstmann
Titelbild: Dall-E

Mit den Worten “Wir müssen heute erneut die Botschaft bekräftigen, dass Gewalt an Frauen und Mädchen nicht zu tolerieren ist”, eröffnet Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) ihre Rede. Im Kaisersaal des Hamburger Rathauses hören ihr um die hundert Menschen zu – vor allem Frauen und ein paar wenige Männer. Neben Leonhard übersetzt eine Dolmetscherin die Rede in Gebärdensprache. Es ist der 25. November 2022, der internationale Tag gegen Gewalt an Frauen. 

Die Sozialbehörde veranstaltet anlässlich des Aktionstages einen Senatsempfang. Kurz vor ihrer Rede hatte Leonhard gemeinsam mit der Vizepräsidentin der Bürgerschaft, Mareike Engels (Grüne), und zwei Vertreterinnen der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes eine Flagge am Hamburger Rathaus gehisst. Die Aufschrift: „Nein zu Gewalt an Frauen. Frei leben ohne Gewalt“.

Die Flagge mit der Aufschtrift "Nein zu Gewalt an Frauen" frisch gehisst vor dem Hamburger Rathaus. Sozialsenatorin Leonhard sowie Vizepräsidentin der Bürgerschaft und Vertreter*innen von Terre des Femmes.
Von links nach rechts:: Mareike Engels, Melanie Leonhard, zwei Vertreterinnen von Terre des Femmes auf dem Rathausbalkon. Foto: Lina Gunstmann

113 Frauen starben 2021 durch Partnerschaftsgewalt

Proteste für Frauenrechte im Iran, erschwerte Schwangerschaftsabbrüche in den USA und in Polen, strukturelle Unterdrückung von Frauen in Afghanistan – die Situation für Frauen ist vielerorts äußerst problematisch. „Es geht um den Schutz von Frauen in der Welt und da ist so unglaublich viel zu tun. Da hat sich die Situation nicht verbessert, sondern leider verschlechtert“, sagte Senatorin Leonhard FINK.HAMBURG.

Aber auch in Deutschland gibt es Verbesserungsbedarf. Denn hier wird statistisch jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt. In absoluten Zahlen sind das mehr als zwölf Millionen Frauen. Damit ist Deutschland das OECD-Land, in dem prozentual am meisten Frauen Gewalt erfahren – noch vor Korea, Estland und Slowenien. Das besagt eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit Daten aus 2019.

Schwere Delikte werden häufiger angezeigt

Das Bundeskriminalamt (BKA) erhebt jährlich Zahlen zu Partnerschaftsgewalt in Deutschland. Ein Ergebnis: 2021 wurde statistisch gesehen alle 45 Minuten eine Frau in Deutschland durch ihren Partner körperlich gefährlich verletzt. Jeden dritten Tag tötet ein Mann seine (Ex-)Partnerin. Die Anzahl der Fälle von Gewalt in Partnerschaften in 2021: 143.000. Die Opfer waren zu 80,3 Prozent weiblich und zu 19,7 Prozent männlich– andere Geschlechter wurden nicht erfasst.

Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, denn nur circa ein Prozent aller Sexualdelikte wird zur Anzeige gebracht, wie die sogenannte “Dunkelfeldstudie” des Bundeskriminalamtes ergab. Die Studie basiert auf mehr als 45.000 Fragebögen und ergab, dass es große Unterschiede zwischen den Deliktgruppen gibt: Je schwerwiegender die Straftat, desto häufiger kommt es zur Anzeige. So würden Vergewaltigungen und sexuelle Missbräuche in 9,5 Prozent der Fälle gemeldet, während beispielsweise das Zeigen von Geschlechtsteilen nur in 0,6 Prozent der Fälle angezeigt würde. 

Grafik zur Studie "Partnerschaftliche Gewalt in Deutschland 2021". Quelle: Bundeskriminalamt 2022
Gewalt gegen Frauen findet häufig in Partnerschaften statt. Grafik: Valentina Rössel

Die Stadt Hamburg will betroffene Frauen in Hamburg besser unterstützen. Die Sozialbehörde organisierte 2020 den Fachdialog „Gewalt gegen Frauen“, der seitdem jährlich stattfindet. Ziel des Dialoges sei es, die Vorgaben der Istanbulkonvention (siehe Kasten unten) in Hamburg umzusetzen. Dazu lädt die Sozialbehörde mehrere Expert*innen des Opferschutzes zu Gesprächen ein. Beraten wird über erforderliche Maßnahmen in Hamburg.

In diesem Jahr waren Gewalt gegen Frauen mit Behinderung und verstärkte Gewaltprävention Thema. Das Ergebnis: Beratungsangebote für Frauen mit Behinderungen sind noch nicht hinreichend ausgebaut und Kinder müssen früher für gewaltfreie Kommunikation und die Überwindung von Geschlechterstereotypen sensibilisiert werden.

Im Dialog entstanden zahlreiche Empfehlungen, um die Opferhilfelandschaft in Hamburg zu verbessern. Frauenhäuser und Beratungsstellen sollen barrierefreier werden: Dazu gehört die Zugänglichkeit der Gebäude selbst, aber auch Informationen in Leichter Sprache und mehr Dolmetscher*innen. In Kindertagesstätten und Schulen sollen Kinder für Gewalt zu sensibilisiert werden, zum Beispiel durch das Üben von gewaltfreier Kommunikation.

“Es fehlen 200 Schutzplätze”

Auch die Diakonie Hamburg war in die Gespräche eingebunden. “Der Fachdialog hat zu einer Vielzahl an Erkenntnissen und Vorschlägen geführt – nun muss sich zeigen, ob die Stadt auch bereit ist, die Umsetzung dieser Vorschläge zu finanzieren”, so die Einrichtungsleiterin Frauenhaus Stefanie Leich zu FINK.HAMBURG. 

Ob und inwieweit die Empfehlungen umgesetzt werden, ist derzeit noch offen. Martin Helfrich, Pressesprecher der Sozialbehörde, zeigt sich auf Nachfrage von FINK.HAMBURG aber zuversichtlich: “Es ist geplant und realistisch, dass die Ergebnisse des Fachdialoges auch tatsächlich in die Weiterentwicklung des Hamburger Hilfesystems einfließen.” Die Finanzierung befände sich aber noch in der Prüfung.

Istanbul-Konvention gilt ab Februar 2023 uneingeschränkt

    Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die Istanbul-Konvention, schützt Frauen und Mädchen vor jeglicher Form von Gewalt. In Deutschland trat die Konvention am 1. Februar 2018 in Kraft – allerdings mit Einschränkungen.
    Jüngst zog die Bundesregierung nun die Vorbehalte gegen die Artikel 59 und 44 zurück. Bisher war Deutschland formal nicht zur vollständigen Umsetzung der Artikel 59 zum Aufenthaltsrecht und 44 zur Gerichtsbarkeit verpflichtet. Die vor vier Jahren eingelegten Vorbehalte wurden in diesem Jahr nicht verlängert und laufen somit automatisch am 1. Februar 2023 aus.
    Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) sagte im Oktober in einer Meldung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: “Endlich setzt Deutschland die Istanbul-Konvention ohne Wenn und Aber um. Was die Bundesregierung im Koalitionsvertrag vereinbart hat, haben wir jetzt umgesetzt. Die Rücknahme der Vorbehalte ist ein klares Zeichen an alle von Gewalt betroffenen Frauen und Mädchen: Wir stehen uneingeschränkt an Eurer Seite.” Auch UN Woman Deutschland, Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) begrüßten die Entscheidung.

Bereits ein paar Tage vor dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen fordert die Diakonie Hamburg mehr Personal für die Frauenhäuser. “Die Stadt muss ihrer Verpflichtung nachkommen und die Personalmittel für die Frauenhäuser entsprechend des Mehrbedarfs aufstocken”, so Einrichtungsleiterin Frauenhaus Stefanie Leich zur Deutschen Presseagentur. Nur so könne man bedarfsgerechten Gewaltschutz gewährleisten.

Die psychische und soziale Belastung der Frauen im Frauenhaus sei hoch, deshalb brauche die Begleitung mehr Zeit als noch vor einigen Jahren.

“Erst mal das Fachpersonal halten”

Die Hamburger Sozialbehörde reagierte darauf verhalten. “Unsere Aufgabe ist erst mal, dass wir das Fachpersonal in den Frauenhäusern halten, damit wir die Schutzplätze, die wir haben, auch sinnvoll betreiben können. Da werden wir den Schwerpunkt setzen”, so Sozialsenatorin Leonhard zu FINK.HAMBURG.

Sozialsenatorin Leonhard und eine Dolmetscherin auf dem Senatsempfang.
Sozialsenatorin Leonhard und eine Dolmetscherin. Foto: Lina Gunstmann

In der Corona-Zeit hatte die Stadt zusätzliche Mittel für Frauenhäuser bereitgestellt, diese seien allerdings zeitlich auf die Pandemie beschränkt. 

Nach der Istanbul-Konvention wird pro 100.000 Einwohner*innen ein Familienplatz empfohlen. “Wie viele Plätze ein Familienplatz ausmacht, ist leider nicht klar definiert”, so eine Sprecherin der Diakonie auf Nachfrage. “Geht man davon aus, dass es alleinstehende Frauen und Familien mit drei bis vier Kindern sowie alles dazwischen gibt, könnte man als Durchschnittswert 2,5 veranschlagen.” Auf die Bevölkerung von Hamburg gerechnet ergebe sich dadurch ein Bedarf von 460 Plätzen  240 Plätze seien aktuell vorhanden. “Es fehlen also circa 200 Schutzplätze”, so die Sprecherin.

Gewalt an Frauen hat viele Gesichter

Nicht nur Plätze in Frauenhäusern fehlen in Hamburg. Auch die Weiterbildung von Fachpersonal im Hilfesystem der Stadt Hamburg wie der Polizei und bei medizinischem Personal wurde im Fachdialog von Expert*innen gefordert. Fachpersonal müsse für die unterschiedlichen Formen der Grenzverletzung sensibilisiert werden.

Denn laut Sozialsenatorin Leonhard beginnt Gewalt an Frauen schon da, wo die Selbstbestimmung der Frauen begrenzt wird. “Sei es, dass Frauen mit Worten verletzt werden, Menschen ihnen physisch zu nahe kommen oder Übergriffe passieren”, so die Senatorin im Gespräch mit FINK.HAMBURG. Gewalt an Frauen sei weit mehr als physische Gewalt in der Ehe oder Partnerschaft.

So sieht es auch UN Woman Deutschland: Geschlechtsspezifische Gewalt beginnt bei Alltagssexismus und endet mit Femiziden”, so die Organisation auf ihrer Internetseite. Demnach zählen sexuelle Belästigung und Übergriffe, Vergewaltigung, Stalking oder Cybergewalt genauso zu Gewalt an Frauen wie Zwangsprostitution, Menschenhandel und Genitalverstümmelung.

Grafik: Gewalt an Frauen hat viele Gesichter. Die verschiedenen Formen von Gewalt sind schematisch dargestellt und untertitelt.
Gewalt an Frauen hat viele Gesichter. Grafik: Lina Gunstmann

Am Ende des Senatsempfangs wird der Raum für Unterhaltungen und Austausch geöffnet. Innerhalb von Sekunden beginnen die Anwesenden, Zwiegespräche zu führen und über die Themen des Fachdialogs zu diskutieren. Der Geräuschpegel steigt, weitere Räume werden zur Verfügung gestellt.

Gesprächsbedarf, so wird deutlich, ist da. Das Thema Gewalt an Frauen ist in Hamburg noch lange nicht ausreichend erörtert.

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