Wie ist es, sich kurz vor der Pensionierung in den Online-Unterricht einzufuchsen? Weil Christine P. wegen der Corona-Krise ihren Unterricht digital gestalten muss, ist ihr Alltag als Realschullehrerin komplett auf den Kopf gestellt.
Seit Bayern am 13. März als erstes Bundesland wegen der Corona-Krise seine Schulen vorübergehend geschlossen hat, ist der Arbeitsweg von Christine P. deutlich kürzer. Statt sieben Kilometer mit dem Auto zur Schule zu fahren, erklimmt die 60-jährige Lehrerin jetzt jeden Morgen gegen acht Uhr die Stufen zu ihrem Arbeitszimmer im Dachgeschoß der Doppelhaushälfte in Bayern.
Dort steht ein langer Schreibtisch, gesäumt von hohen Regalen, in denen sich Schulbücher und Klassenordner stapeln. Vor der Krise verbrachte die Realschullehrerin meistens nur ihre Nachmittage hier. Vormittags stand sie vor Deutsch- und Geschichtsklassen oder begutachtete die Unterrichtsstunden ihrer Referendar*innen. Seit Mitte März ist das anders: Unterrichtet werden darf vorerst nur noch digital.
Deshalb hat Christine P. jetzt ihren großen Laptop – ein älteres Modell – in die Mitte ihres Schreibtisches gerückt. Klobig thront er dort: Weil viele Programme veraltet sind, dauert es seine Zeit, bis die ersten Mails abgerufen werden können. Neben dem Computer stapeln sich noch nicht herausgegebene Schulaufgaben, alte Arbeitsblätter und unterschriebene Elternbriefe, die vor Corona noch zum Alltag der Beamtin gehörten.
Nach 30 Jahren ein Neuanfang
Christine P. ist eine Frau, der man ihre 60 Jahre nicht ansieht: kaum Falten im Gesicht, kein einziges graues Haar. Von außen lässt im ersten Moment nichts drauf schließen, dass die dreifache Mutter schon seit mehr als 20 Jahren verbeamtet ist. Doch in ihrer Schule ist sie eine Alteingesessene, ihre gesamte Beamtinnenlaufbahn hat sie dort verbracht. Träge, wie das so manchen Verbeamteten vorgeworfen wird, wurde sie dadurch nicht. Vielmehr wirkt sie forsch und bestimmt, als lasse sie sich nach knapp 30 Jahren Schulbetrieb nicht mehr viel gefallen. Ihr Ruf bei den Schüler*innen: streng und anspruchsvoll, aber gerecht – hofft sie.
FINK.HAMBURG hat 24 Menschen gefragt, wie sich ihr Leben durch die Corona-Krise verändert hat. Geführt haben wir die Gespräche via Skype, Zoom, im engsten Bekanntenkreis, denn wir mussten Abstand halten. Herausgekommen sind dennoch Nahaufnahmen von Hebammen, Lehrkräften, Krankenpfleger*innen, Studierenden. Sie zeigen, wie herausfordernd das Virus für den beruflichen und privaten Alltag ist und wie Neuanfänge gelingen.
Dennoch: “Für mich ist das schon eine Herausforderung”, erzählt Christine P. nach einem weiteren Tag im Dachgeschoß und meint damit den Umstieg auf den Online-Unterricht.
Junge Kolleg*innen drehen seit der Schulschließung YouTube-Videos oder treffen sich per Teams und Zoom mit ihren Klassen. “Ich habe das ja nie gelernt”, sagt die Lehrerin. Sie schloss 1987 ihr zweites Staatsexamen ab. Anfangs zeigte sie noch Filmrollen, ihre ersten Arbeitsblätter und Zeugnisse tippte sie auf der Schreibmaschine. Erst im Laufe der Zweitausender stieg sie sukzessive und in Eigenregie auf den Computer um. Es war kein leichter Wechsel, doch er musste eben sein, erzählt sie: “Als Seminarlehrerin bilde ich schließlich auch den Lehrer*innennachwuchs aus, und dieser Job verlangt digitale Kompetenzen.”
Die Corona-Krise ist kein Grund für Unpünktlichkeit
Doch Arbeitsblätter am Computer zu konzipieren oder Präsentationen zu erstellen ist bei Weitem nicht dasselbe wie online zu unterrichten. “Analoge Lehre kann das sowieso auf keinen Fall ersetzen”, findet Christine P.
Den plötzlichen Umstieg auf Homeoffice erschwerte auch die Tatsache, dass den bayrischen Lehrer*innen für ihren digitalen Unterricht eine klare Linie vom Kultusministerium fehlt: Zunächst sollte die Plattform Mebis für die Lehre in der Corona-Krise genutzt werden, doch das Tool fiel schon am ersten Tag Hackern zum Opfer.
In ihren Klassen organisiert Christine P. jetzt deshalb alles per Mail. Einen ganzen Tag verbrachte sie nur mit dem Erstellen von Verteilerlisten. “Generell geht viel zu viel Zeit für das Organisatorische drauf”, sagt sie.
Sie will es aber auch gründlich machen. Ganze Vormittage verbringt sie damit, Eltern von Schüler*innen anzurufen, um aktuelle Probleme zu besprechen. Werden Aufgaben unpünktlich abgegeben, greift sie zum Hörer. Das ermüdet, ebenso wie das stundenlange Starren auf den Bildschirm. “Ich bin es einfach nicht gewohnt, den ganzen Tag vor einem Computer zu sitzen. Für meine Schüler*innen waren immerhin die Vormittage weitgehend eine Zeit ohne Bildschirme und soziale Medien, aber die sitzen jetzt ja wirklich den ganzen Tag vor irgendwelchen technischen Geräten.” Deshalb müssen ihre Klassen auch weiterhin teilweise analog arbeiten. “Das mag in diesen Zeiten altmodisch erscheinen”, sagt Christine P., “aber allein durch das händische Schreiben lernen die Schüler*innen, sich auf etwas abseits der Medien zu konzentrieren.”
Sie möchte nicht auslernen
Auch wenn sie es nicht sinnvoll findet, Arbeitsblätter in Lehrvideos auf YouTube zu erklären, imponieren ihr die technischen Kompetenzen ihrer jungen Kolleg*innen. Sie möchte das auch alles können – aber ist sich unsicher. Unsicher, ob das, was sie vor ihrem Bildschirm leistet, den Ansprüchen der digitalen Lehre gerecht wird. Deshalb hat sie mit einem jungen Kollegen auch schon einige Tools ausprobiert, Schritt für Schritt mitgeschrieben und immer wieder geübt. Schon bald möchte sie die ersten Videokonferenzen mit ihrer siebten Klasse wagen. So richtig Spaß bereitet ihr das Ganze aber nicht: “Ich bin einfach froh, wenn ich wieder normal unterrichten kann.”
Immerhin ist Ende April der Präsenzunterricht für ihre Abschlussklasse wieder losgegangen. Christine hält nun jede Stunde doppelt, denn die Klassen werden für den nötigen Hygieneabstand geteilt. Masken hingegen sind nur eine Empfehlung, auch Christine unterrichtet ohne Mundschutz: “Bei uns trägt die sowieso kaum jemand”, sagt sie.