Testen, umlagern, desinfizieren: Juliane L. ist Krankenschwester auf der Intensivstation eines Hamburger Krankenhauses und pflegt Corona-Patient:innen. Hier erzählt sie, wovor sie Angst hat und welche Klischees sie nerven.

Dieser Text erschien bereits im Juni. Da er nichts an Aktualität eingebüßt und sich die Lage auf den Intensivstationen in Deutschland erneut zugespitzt hat, zeigen wir ihn nun nochmal. 

Juliane nimmt einen großen Schluck Kaffee. Zu Hause trinkt sie ihn mit einem Schuss Hafermilch und zwei Löffeln braunem Zucker. Sie ist erstaunt, wie oft sie heute die Tasse zum Mund führt – auf der Intensivstation der Asklepios Westklinikum Hamburg bleibt meist keine Zeit dafür. Sobald sie sich einen Kaffee eingeschenkt habe, müsse sie schon wieder zur nächsten Aufgabe huschen, zum nächsten Patient:innenbett. An Pausen sei kaum zu denken.

Kurz auf die Toilette? Ja, aber schnell. Zwischendurch mal etwas essen.
Eine Zigarettenpause? Unmöglich.
Der Ablauf einer Schicht ist streng getaktet – er war es auch vor Corona, schon immer.
„Ich finde meine vollen Kaffeetassen dann im Laufe des Tages irgendwann irgendwo wieder“, sagt sie und schmunzelt.

Freizeit ist für Juliane selten

Juliane ist im Krankenhaus für das zuständig, wovor sich viele fürchten: Menschen am Leben zu erhalten, die an Covid-19 erkrankten. Heute hat sie frei und sitzt in ihrer Wohnung am Küchentisch. Auf einem Schneidebrett aus Holz liegt ein selbstgebackener, veganer Hefezopf. Eigentlich wäre sie an ihrem freien Tag lieber mit ihren Freunden unterwegs: Biertrinken in der Schanze oder mal wieder ein Museum besuchen. Aber Juliane bleibt zu Hause. „Ich möchte, dass es meinen Liebenden gut geht und sie gesund bleiben. Da muss man leider gerade Abstriche machen – das müssen alle.“

Pflege, Politik oder Sport: Viele Hamburger:innen zeigen gesellschaftlichen Einsatz – und das auf ganz unterschiedliche Weise. FINK.HAMBURG erzählt die Geschichten von 25 Menschen – etwa einem Rikschafahrer, der Senior:innen kutschiert oder einem Pfarrer, der Predigten im Internet versteigert. Das ist alles andere als langweilig, Ehrensache.

Juliane hat sich trotzdem schick gemacht. „Fürs Gefühl“, so die 23-Jährige: Sie trägt ein weißes Rollkragenshirt, das sie in ihre Jeans gestopft hat. Darüber einen grauen Cardigan aus Wolle. Ihre glatten, hellbraunen Haare steckt Juliane mit einer Klammer an ihren Hinterkopf, der Pony ist mit Haarspray gestylt. Auf ihren Augenliedern hat sie einen schwarzen Lidstrich gezogen und sich die Wimpern getuscht. Die Fingernägel sind nicht lackiert; das ständige Desinfizieren der Hände hat Spuren auf ihrer Haut hinterlassen: rau und trocken sehen sie aus. Was für uns zur neuen Gewohnheit geworden ist, ist für Juliane Alltag – auch vor Corona, schon immer.

Der Alltag einer Krankenschwester

Juliane rutscht mit ihrem Körper bis zur Stuhlkante vor, verschränkt ihre Arme. Das Stück Hefezopf auf ihrem Teller hat sie noch nicht angerührt. Ihr Blick wandert im Raum umher, als sie versucht ihren Tagesablauf zu rekonstruieren:

Um 6 Uhr morgens beginnt ihr Frühdienst. Sobald die Krankenpflegerin über die Türschwelle des Krankenhauseingangs geht, trägt sie bis zum Dienstende eine FFP2-Maske. Der behandelnde Arzt klärt die sie über den Stand der Patienten auf. Meist ist sie für drei bis vier Patient:innen pro Dienst zuständig. Laut Pflegeschlüssel seien theoretisch zwei Patient:innen einer Pflegekraft zugewiesen. In der Praxis sehe das ganz anders aus.

Danach bespricht sie sich mit dem Nachtdienst:

Welche Medizin hat die kranke Person bekommen?
Gesundheitlicher Stand der Patient:innen?
Muss diese beatmet werden?
Wie viel Urin hat die Person ausgeschieden? Welche Farbe hatte es?
Muss die Person vielleicht umgelagert werden?

Jedes Detail dokumentieren

„Jedes Detail, von der Kopfhaarfaser bis zum Zeh, muss beobachtet und dokumentiert werden. Wir müssen den Blick dafür haben, wenn etwas mit dem Patienten nicht stimmt und das sofort erkennen.“

Juliane rührt in ihrem lauwarmen Kaffee herum, zieht den Löffel heraus, um ihn danach wieder in der hellbraunen Brühe versinken zu lassen. Ihr Blick ist starr auf die Tasse gerichtet. Sie setzt mit dem Erzählen fort:

Mindestens einmal stündlich kontrolliert sie alle Vitalzeichen ihrer zu behandelnden Personen: Blutdruck, Puls, Bewusstsein, Atmung, Körpertemperatur und von vorn. Wenn an Covid-19 erkrankte Patient:innen stark husten oder beatmet werden, saugt die Krankenschwester Lungensekret ab. Gemeinsam mit ihren Kolleg:innen wendet sie im Zwei-Stunden-Takt die gelagerten Personen. Neben den lebenserhaltenden Aufgaben darf sie die Pflege der Menschen nicht vernachlässigen – vor allem für jene, die inkubiert werden und isoliert liegen.

Noch mehr Vorsicht, noch weniger Zeit

Juliane nippt an ihrem mittlerweile kalten Kaffee. Immer noch liegt die Scheibe Hefezopf unberührt auf ihrem Teller. Die Krankenschwester beugt sich über die Tischkante vor, ihr Blick gleitet langsam vom Teller nach oben. Sie atmet tief durch, entschuldigt sich für ihren Redefluss. „Ich mache gleich noch eine Kanne.“

Coronapatient:innen machen mehr Arbeit als normal, so Juliane. Isoliert liegende Personen benötigen eine noch intensivere Vorbereitung. Händedesinfizieren, OP-Kittel und FFP2-Maske anziehen – das reicht dann nicht mehr aus. In einem Vorraum, der als Sicherheitszone gilt, kleidet sich Juliane ein, bevor sie das Zimmer betritt: Um ihre Augen zu schützen, hat sich die 23-Jährige eine Skibrille bestellt. Diese dichte besser ab und schütze sie vor Viren und Bakterien.

Juliane Lalla in Schutzkleidung. Foto: Juliane Lalla
Juliane in ihrer Schutzkleidung im Asklepios Krankenhaus Rissen. Foto: Juliane L.

Über ihren Kopf zieht sie eine Haube, damit auch das Band der Brille geschützt ist. Darauf folgen Handschuhe und ein Kittel. Darüber dann noch einmal Handschuhe. Die Reihenfolge wie und was angezogen wird, ist auch beim Ausziehen von Bedeutung: mit sauberen Händen nichts Infektiöses anfassen. Das ganze Prozedere dauert pro Einheit drei bis fünf Minuten – und das auch, wenn die kranke Person nur einen Tee möchte.

„Seit Monaten sind die Betten auf der allgemeinen Corona-Station wirklich bis auf das letzte Bett komplett voll“, sagt die Intensivkrankenschwester. Auf ihrer Station wären rund ein Viertel der Intensivbetten von Coronapatient:innen besetzt. Zwar sei die Kapazität im Krankenhaus auch schon vor der Pandemie ausgereizt gewesen, jetzt fühlt es sich für Juliane aber anders an: „So einen Corona-Patienten kannst du nicht einfach mal verlegen. Das ist eine ganz andere Anforderung.“

Nervende Klischees einer Krankenschwester

Ihr Tonfall wird streng. Ihr Kopf dreht sich nach rechts, sie streckt ihren Körper in Richtung Küchenzeile, greift zur vollen Kanne Kaffee, fällt auf den Stuhl zurück und schenkt sich eine halbe Tasse ein. „Das ist so ein riesiges Spektrum, was wir leisten – und die Leute blicken immer nur mit ihren Scheuklappen auf unseren Beruf. Darauf, dass wir Bettpfannen wegbringen und Patienten waschen.“ Juliane ist genervt von diesen Klischees, dass Pfleger:innen nur “Ärsche abwischen und Kaffee trinken”, sagt sie.

Und Juliane hatte Angst. Angst vor dieser großen Verantwortung.
Es ist die Verantwortung mehrerer Menschenleben, die an Juliane hängen.
Es ist die Verantwortung eines würdevollen Umgangs.
Es ist die Verantwortung sich dabei selbst nicht zu verlieren.

Die Worte aus ihrem Mund scheinen sich gegenseitig die Kraft zu nehmen – bis ihre Stimme schließlich bricht: „Ich war bei Notfallsituationen dabei und habe Menschen beim Sterben begleitet.“ Kurze Pause. „Und ich habe Leute gesehen, die wieder genesen“, fügt sie mit wieder erstarkten Stimme hinzu. „Ich bin ein Teil davon und kann stolz darauf sein.“

Foto: privat