Das Geschäft mit gelieferten Lebensmitteln brummt. Große Supermarktketten liefern ihre Ware schon länger aus. In neue Lieferdienste wie Gorillas und Flink wurden hunderte Millionen Euro investiert. Ein Hamburger Start-Up will sich gegen die übermächtige Konkurrenz behaupten.

Es ist ein heißer Nachmittag in Hamburg. Die Hitze reflektiert vom Asphalt der dichtbefahrenen und von Häuserblocks gesäumten Grindelallee. An der vereinbarten Adresse angekommen, drücke ich auf das Klingelschild mit der Aufschrift „Orderlich“. Niemand öffnet. Ich versuche es wieder, danach nochmal. Zehn Minuten später biegt ein Mann mit dunklen Locken um die Ecke, er ist mit Einkaufstüten beladen. Sein Name ist Rhalid Boucheta, er ist der Gründer von Orderlich. „Oh, sind wir jetzt schon verabredet?“, fragt er. „Ich war noch schnell auf dem Wochenmarkt um die Ecke“.

Er schließt die Eingangstür auf und wir gehen in das um 15 Grad kühlere Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses. Einen Augenblick später öffnet sich eine weitere Tür und hinter ihr wird der Flur von etwas, das im ersten Augenblick aussieht wie eine Wohnung, sichtbar. Doch hier wohnt niemand, hier wird gelagert, auf 35 Quadratmetern. Orderlich ist ein liefernder Kiosk.

Was zu snacken, zu trinken, zu rauchen

Seit knapp neun Monaten beliefert Rhalids Lieferdienst von hier aus mit dem Fahrrad die Haushalte der Hansestadt. Genauer gesagt: den Hamburger Westen, die Neustadt und St. Georg. Was zu snacken, was zu trinken, was zu rauchen – das ist das Sortiment des 32-jährigen Gründers. Von Dosenravioli über Sojamilch hin zu Tabakwaren, Rhalid verpackt mit seinen 13 Mitarbeiter:innen seine Ware. Zehn von ihnen sind auf der Straße unterwegs.

Früher haben Menschen sich höchtens Essen aus dem Restaurant liefern lassen. Und Getränkekisten. Inzwischen hat sich eine neue Branche in urbanen Gegenden gebildet, die sich darauf spezialisiert hat, Supermarkt-Lebensmittel nach Hause zu liefern. Den Anfang in Deutschland machten normale Supermärkte: Rewe im Jahr 2011, bald folgte Edeka. Neuerdings gibt es reine Onlinesupermärkte, Flink oder Gorillas etwa. Orderlich ist auf Hamburgs Straßen der erste Onlinekiosk. Das Geschäft ist umkämpft. Warum hat das Lieferbusiness so einen Auftrieb?

“Es geht um die Optimierung”

„Lieferdienste sind die Zukunft, weil die den Leuten Arbeit abnehmen. Und in der heutigen Gesellschaft ist Zeit ein rares Gut“, antwortet Rhalid. „Ich glaube aber, das Eine ersetzt nicht das Andere. Nur weil du dir manchmal ein Taxi gönnst, heißt das nicht, dass du dein Fahrrad oder Auto nicht mehr benutzt. Es geht um Optimierung.“ Dinge müssen schnell gehen, sollen bequem sein, effizient und gleichzeitig nicht teuer. Die Ware soll zu den Kund:innen kommen, nicht andersherum. Für Rhalid und sein Start-Up eine enorme Herausforderung.

Mit 50.000 Euro schob er sein Unternehmen an, weiteres Geld floss bislang noch nicht in Orderlich. Seit Februar kann er immerhin die laufenden Kosten decken. Kürzlich hat er die Liefergebühren von 3,50 Euro auf 5,50 Euro erhöht. „Wir mussten in den vergangenen Monaten viel lernen“, sagt Rhalid. „Uns gibt es ohne Investoren, ohne Kredite, ohne großes Marketing. Aber dadurch auch ohne große Vorgaben. Die einzige Vorgabe ist, dass ich meine Miete bezahlen kann.“ Er lacht.

Schnelles Wachstum bei Gorillas

Investoren und Marketing, sie sind anderswo reichlich vorhanden. Das Unternehmen Gorillas, im Mai 2020 in Berlin gegründet, hat so schnell wie kein anderes Start-Up aus Deutschland einen Unternehmenswert von einer Milliarde Euro erreicht. Der Schnelllieferdienst auf E-Bikes verspricht, getätigte Bestellungen innerhalb von zehn Minuten auszuliefern. Dabei ist er mit 1,80 Euro Liefergebühren und Preisen wie im Einzelhandel sehr günstig. Für die Bestellung ist eine App nötig.

Das Unternehmen lockte Investoren an, die laut Unternehmensangaben zusammen fast 245 Millionen Euro investierten. Mit Flink, in Deutschland seit Anfang 2021 am Start, gibt es bereits den ersten Konkurrenten, der das Geschäftsmodell nachahmt. Im Juni wurde bekannt, dass Flink zukünftig mit Rewe zusammenarbeitet.

Auch für Rewe stellt „die Belieferung mit frischen Lebensmitteln keinen singuläreren Kanal oder gar einen Ersatz des stationären Handels“ dar, lässt Thomas Bonrath, Pressesprecher der Rewe Group, auf Anfrage schriftlich wissen. Doch „wenn unser Lieferservice den gesamten Wocheneinkauf in den vierten Stock liefert, dann noch die Payback-Karte akzeptiert und die Kunden auch ihr Leergut abgeben können, dann ist das eine enorme Erleichterung des Alltags“.

Wie auch bei Gorillas wuchs bei Flink die Höhe der investierten Summen, hier sogar auf etwa 250 Millionen Euro. Lieferdienste können einige Kosten im Vergleich zu stationären Supermärkten einsparen. Die Verkaufsfläche eines Marktes fällt weg und muss nicht mit Ware bestückt werden, Personalkosten können so reduziert werden. Auch sind die Mietkosten niedriger, weil die Lager klein sind. So wie bei Rhalid.

Der Krämer des 21. Jahrhunderts

Ob das Geschäftsmodell nachhaltig profitabel ist, muss sich zeigen. Das schnelle Wachstum der beiden großen Unternehmen bringt jedenfalls Schwierigkeiten mit sich. Im Mai machte das IT-Kollektiv Zerforschung auf ein Datenleck bei Gorillas aufmerksam. Demnach waren rund 200.000 sensible Kundendaten, darunter auch Fotos von Klingelschildern, frei im Netz ersichtlich.

Kurze Zeit später sorgte die Kündigung eines Fahrradkuriers, der zu spät zur Arbeit erschienen sein soll, für mediale Aufmerksamkeit. Was folgte, war eine Solidaritätswelle großer Teile der übrigen Belegschaft, die in der Organisation eines Betriebsrates mündeten. Eine Presseanfrage an das Unternehmen von FINK.HAMBURG blieb unbeantwortet.

Gorillas oder Flink sind eine übermächtige Konkurrenz für kleine Unternehmen wie Orderlich, das ist auch Rhalid klar. Supermarktpreise könne er nicht halten, doch er definiert sich ohnehin anders. „Wir sind eher der Krämer von früher, bloß im 21. Jahrhundert. Und heute gehst du nicht mehr zum Krämer, sondern der Krämer kommt zu dir“, erklärt er.

Kaum spricht er diesen Satz aus, ertönt ein Surren und ein Stück Papier wird von einem Bondrucker beschrieben, der mit einem Computer verbunden ist. „Das ist jetzt eine Bestellung, für später“, so Rhalid. Die Ware wird erst ab 18 Uhr ausgefahren – und vorher wieder verpackt auf 35 Quadratmetern.

Foto: Jan-Eric Kroeger