Antisemitismus wird heutzutage selten offen und direkt kommuniziert. Vielmehr werden antisemitische Äußerungen in Form von Codes, Chiffren und Verschwörungstheorien versteckt. Ein Interview mit Antisemitismusexperte Nikolas Lelle.
“Globalisten”, “Krake” oder “die Rothschilds” – Laut Expert:innen zählen diese und weitere Chiffren und Verschwörungserzählungen zu einem stetig wachsenden antisemitischen Code.
Viele dieser Begriffe sind nicht per se antisemitisch. Entscheidend sind ihr Kontext und ihr geschichtlicher Hintergrund. FINK.HAMBURG hat darüber mit dem Antisemitismusexperten Nikolas Lelle von der Amadeu Antonio Stiftung gesprochen.
FINK.HAMBURG: Herr Lelle, Sie sagen, dass man Antisemitismus erkennen muss, um ihn zu bekämpfen. Aber wie erkenne ich Antisemitismus überhaupt?
Nikolas Lelle: Man hat es bei Antisemitismus mit einem Phänomen zu tun, das manchmal gar nicht so leicht zu erkennen ist. Er zeigt sich nicht immer offen, sondern oft auch versteckt in Codes und Metaphern, die es zu dechiffrieren gilt.
Das hat unter anderem historische Gründe. Bis 1945 konnte man in Deutschland stolz darauf sein, Antisemit zu sein und das auch offen sagen. Nach 1945 war klar: Man kann sich nicht mehr offen als Antisemit bekennen. Seitdem äußert sich Antisemitismus noch verdeckter als zuvor.
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Was sind denn gängige antisemitische Codes?
Lelle: „Die Rothschilds“, „Hochfinanz“, „Zionisten“ – das sind ganz klassische und auch sehr alte antisemitische Codes. Besonders „die Rothschilds“ als jüdische Bankiersfamilie ist ein Code, der in der Corona-Pandemie oft benutzt wurde. Wenn Leute nicht „die Juden“ sagen wollten, haben sie stattdessen gesagt „die Rothschilds“, aber auch andere Namen wie „Rockefeller“, „Zuckerberg”, „Gates“ oder auch „George Soros“ zählen als antisemitische Codes. Das sind Namen, die als “jüdische Namen” codiert werden. Dabei sind Rockefeller und Gates nicht einmal jüdisch. Dadurch, dass sie aber im Gleichklang kommen mit “den Rothschilds” und “Georg Soros”, sind sie als Codes zu verstehen.
Daneben gibt es noch Chiffren in Form von Tier-Metaphern, wie Krake, Schlange oder Schwein, die oft benutzt werden. Hier gibt es eine bekannte Karikatur, die Marc Zuckerberg darstellt, wie er als Krake die Computer dieser Welt umschlingt. Auch das ist eine Form von Antisemitismus, die man nur versteht, wenn man diese Codes lesen kann.
Kann man sich auch unbewusst antisemitisch äußern?
Lelle: Grundsätzlich ja, jede:r kann sich auch unbewusst antisemitisch äußern. Meine Einschätzung wäre, dass wir es bei Antisemitismus mit einem Feld zu tun haben, bei dem es im Vergleich zu Rassismus oder Sexismus noch umstrittener ist, was diskriminierend, also antisemitisch ist und was nicht. Hier müssen wir uns noch viel bewusster machen, was wir an Alltagsantisemitismus wirklich verbreiten.
Lässt sich Antisemitismus oder die Verwendung antisemitischer Codes einem bestimmten politischen Milieu zuordnen?
Lelle: Antisemitismus ist nicht auf ein einzelnes Milieu beschränkt. Vielmehr haben wir festgestellt, dass alle politischen Milieus – links, rechts, aber vor allem auch die bürgerliche Mitte – genauso wie islamistische oder arabisch-nationalistische Kreise ihren ganz eigenen Antisemitismus und ihre eigenen Codes haben und verbreiten.
Man spricht dann von unterschiedlichen Antisemitismen. Ein israelbezogener Antisemitismus lässt sich eher dem linken Spektrum oder auch einem islamistischen oder arabisch-nationalistischen zuordnen. Wohingegen antisemitische Verschwörungserzählungen wie die der Rothschilds eher von rechten Milieus, also beispielsweise Querdenker:innen oder Corona-Leugner:innen, reproduziert werden.
Jüdinnen und Juden werden in Verschwörungserzählungen häufig mit Macht und Geld assoziiert. Was hat es damit auf sich?
Lelle: Die Verbindung von Jüdinnen und Juden mit Geld und Macht ist uralt. Einen genauen Ausgangspunkt dafür gibt es nicht. Bereits Martin Luther hat das antisemitische Narrativ bedient, dass „die Juden“ faul zu Hause herum sitzen, den Zinseszins erfunden haben und deshalb in Reichtum leben, ohne wirklich dafür zu arbeiten. Später, im 19. Jahrhundert, wird „den Juden“ dann keine Faulheit mehr, sondern Rastlosigkeit vorgeworfen. Da heißt es dann: „Juden sind immer am Geschäfte machen“.
Ein interessantes Beispiel für diese imaginierte Verbindung ist die Frankfurter Judengasse. Eine Straße in Frankfurt, in der auf engstem Raum 3000 Leute gelebt haben, von denen viele sehr arm waren, aber einige wenige sehr erfolgreich mit dem Handel, mit dem Verleih von Geld. So auch die Familie Rothschild, die in Frankfurt schnell zu viel Reichtum gekommen ist. Das ist ein Anfang dieses antisemitischen Codes, nicht jedoch dessen Ursache.
“Antisemitismus gibt es, weil Antisemiten ein defizitäres Verhältnis zur Welt haben”
Was ist die Ursache?
Lelle: Der Antisemitismus projiziert antisemitische Stereotype auf Jüdinnen und Juden. Das, was Jüdinnen und Juden und auch Israel machen, ist nicht der Grund dafür, dass es Antisemitismus gibt.
Antisemitismus gibt es, weil Antisemiten ein defizitäres Verhältnis zur Welt haben, es nicht aushalten, dass es Widersprüche gibt, die Welt kompliziert ist und nicht darauf beruht, dass irgendjemand im Hintergrund die Strippen zieht.
Was hat der Kapitalismus mit dieser Verbindung zu tun?
Lelle: Ein Erklärungsansatz ist der Aufsatz „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ von Moishe Postones aus dem Jahr 1979. Er stellt die These auf, dass der Kapitalismus dazu führt, dass Jüdinnen und Juden mit Geld assoziiert werden. Demnach werden Jüdinnen und Juden genau die gleichen Eigenschaften angedichtet, wie dem Kapital. Sie seien abstrakt, hätten keine feste Zugehörigkeit, seien entwurzelt, sie seien international.
Diese Verbindung ist klar antisemitischen Ursprungs. Jüdinnen und Juden werden mit genau dem assoziiert, was der Kapitalismus als Kernelement mitbringt. Gleichzeitig wurden Jüdinnen und Juden durch die Zerschlagung des zweiten Tempels und die jahrhundertelange Verfolgung zu dem gemacht, was ihnen später vorgeworfen wird: zerstreut, über die Welt verteilt zu sein, keine feste Zugehörigkeit zu haben – als Gemeinschaft in der Diaspora zu leben.
Es gibt kaum Verschwörungstheorien, die ohne antisemitische Komponente auskommen. Warum ist das so?
Lelle: Alle aktuell virulenten Verschwörungserzählungen, bei denen Personen im Hintergrund die Fäden ziehen, haben einen antisemitischen Kern. Denn Verschwörungstheorien und Antisemitismus teilen sich zwei Dinge: erstens, eine gemeinsame Geschichte und zweitens, sie sind systematisch miteinander verbunden.
Was bedeutet das konkret?
Lelle: Der Antisemitismus ist der älteste Verschwörungsmythos, den wir kennen. Es geht los mit der Erzählung, dass „die Juden“ Jesus ermordet hätten oder auch die Brunnenvergiftung oder die Ritualmordlegende aus dem Mittelalter. Das sind die ältesten Verschwörungserzählungen, auf die auch heute noch Bezug genommen wird. Noch bekannter ist die Erzählung der „Protokolle der Weisen von Zion“ Anfang des 20. Jahrhunderts, die als Blaupause für viele weitere Verschwörungserzählungen herangezogen wird, mit denen wir es jetzt zu tun haben.
Auf der anderen Seite erkennen wir ein systematisches Element. Verschwörungsmythen und Antisemitismus haben einen ähnlichen Bauplan. Manichäismus zum Beispiel, also eine Vereinfachung komplexer Sachverhalte durch die Gegenüberstellung von Gut und Böse. Ein weiteres Element ist die Personifizierung von gesellschaftlichen Verhältnissen. Im Antisemitismus werden gesellschaftliche Verhältnisse, Jüdinnen und Juden angelastet: „Die Juden sind unser Unglück“. In Verschwörungserzählungen ist das ähnlich. Es herrscht die Vorstellung, hinter komplexen, schwierigen Dingen steckt jemand, den man für diese verantwortlich machen kann.
Ich würde also sagen, dass der Antisemitismus der Bauplan ist, nach dem Verschwörungserzählungen gebaut sind, ob sie sich dabei explizit auf Jüdinnen und Juden beziehen oder (noch) nicht.
Wie würden Sie Menschen entgegnen, die diese Codes und Verschwörungserzählungen nicht als antisemitisch wahrnehmen, vielleicht auch, weil sie sie einfach nicht kennen?
Lelle: Wir haben es bei Antisemitismus mit einem wahnsinnig komplizierten Phänomen zu tun. Eine sehr gängige Definition, mit der auch wir arbeiten, ist die IHRA Arbeitsdefinition Antisemitismus. Eine Möglichkeit wäre es also, sich mit dieser Person hinzusetzen und gemeinsam Beispiele aus den letzten Jahrzehnten mit der Definition abzugleichen, um zu begreifen, was Antisemitismus ist.