Helene Shani Braun wird nach ihrem Studienabschluss die jüngste Rabbinerin Deutschlands sein. Sie betont, dass es auch im Judentum Feministinnen gibt. FINK.HAMBURG hat sich mit ihr über ihre Rolle als junge Frau in der jüdischen Community unterhalten.
Ein Beitrag von Julia Rupf und Marieke Weller
Helene Shani Braun studiert jüdische Theologie in Potsdam und macht eine Ausbildung zur Rabbinerin. Gerade ist sie für ihr Auslandssemester in Tel Aviv, Israel. Die gebürtige Hannoveranerin gibt auf ihrem Instagram-Kanal regelmäßig Einblicke in ihr Leben. Als junge angehende Rabbinerin ist Helene Shani Braun eine Vorreiterin. Rabbinerinnen sind bisher rar. Julia Rupf und Marieke Weller haben sie für FINK.HAMBURG über Zoom interviewt.
Es gibt nicht nur den einen Feminismus
FINK.HAMBURG: Was bedeutet es, eine jüdisch-moderne Frau zu sein?
Helene Shani Braun: Gute Frage. Ich denke nicht so viel darüber nach. Ich bin mit der Religion aufgewachsen und habe alle Feiertage zu Hause gefeiert. Das war für mich schon immer Normalität. Irgendwann habe ich herausgefunden, dass die meisten im Kindergarten oder in der Schule diese Feiertage nicht feiern. Erst dann habe ich gemerkt, dass ich damit alleine war. Aber ich bin schon immer mit starken Frauenbildern aufgewachsen – ob in der Reformgemeinde oder zu Hause mit meiner Mama. Deshalb hatte ich für mich immer eine Selbstverständlichkeit, wie ich mein Judentum lebe und habe das nicht viel hinterfragt.
Du sprichst von starken Frauen in deinem Umfeld. Wie lässt sich für dich Feminismus mit der jüdischen Religion verbinden?
Braun: Zu denken, dass es Feminismus nur im Reformjudentum gibt, ist generell nicht richtig. Ich habe auch orthodoxe und modern-orthodoxe Frauen kennengelernt, die feministisch sind. In allen Denominationen (Anm. d. Red.: eine Untergruppe innerhalb einer Religion) gibt es Frauen, die sich als Feministinnen bezeichnen. Das darf man nicht vergessen. Feminismus hat verschiedene Gesichter: Es gibt nicht nur den einen Feminismus.
Und wie genau beziehst du das auf dich und deinen Glauben?
Braun: Für mich, so wie ich groß geworden bin, ist Feminismus im Judentum folgendes: Das gemeinsame Sitzen beim Gebet, es werden keine Unterschiede zwischen Mann und Frau gemacht, alle dürfen aus der Thora lesen, alle dürfen Tallit, Kippa und Tefillin tragen – und, dass ich eben auch Rabbinerin werden kann. Aber ich bin natürlich keine Sprecherin für konservativere, orthodoxe Jüdinnen.
Männer einfach mal ignorieren
Bindest du diese Aspekte auch in deine Arbeit als Rabbinerin ein?
Braun: Ja. Ich schreibe in meinen Predigten viel über Frauen. Dann ignoriere ich einen Abraham einfach mal und schreibe über Sara, Rebekka und Miriam, um sie hervorzuheben. Es ist auf jeden Fall an der Zeit, die Männer einfach mal zu ignorieren.
Frauen sind im konservativen, orthodoxen Judentum von den Gesetzen der Halacha befreit. Nimmst du die Gebete auch wahr – obwohl du theoretisch als Frau befreit davon bist?
Braun: Spannend. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, ob ich mich so fühle, dass ich davon [Anm. d. Red.: von den jüdischen Gesetzen] befreit wäre. Da muss ich länger nachdenken. Für mich gehört das Beten auch im Studium dazu. Ich leite Gottesdienste und lese auch aus der Thora. Alle andere Regeln, wie zum Beispiel Shabbat oder Kosher zu leben, gelten in jedem Judentum – sowohl für Männer als auch für Frauen. Aber eure Frage bezieht sich mehr auf die Gottesdienstleitung, oder?
Nicht nur. Uns ist bekannt, dass Frauen von den meisten zeitlich gebundenen Geboten ausgeschlossen werden, beziehungsweise befreit sind. Das soll Frauen zwar laut der jüdischen Religion entlasten, dennoch ist eine Gebetspflicht für sie nicht vorgesehen. Wie nimmst du das wahr?
Braun: Ich gehe meinem Glauben nach und werde Gebote so halten, wie ich das für richtig empfinde. Ich bin so aufgewachsen: Zehn jüdische Menschen werden für einen Gottesdienst gebraucht – ganz unabhängig ob Mann oder Frau. Hinsichtlich unserer modernen Zeit: In meiner Beziehung bin ich nicht diejenige, die jeden Freitag putzt und kocht. So läuft das einfach heutzutage nicht mehr. Mein Freund und ich teilen uns den Haushalt – und das gilt auch beim Gebet. Wir sind zu denselben Dingen verpflichtet und auch er kann Kerzen anzünden, was auch sonst eher eine Aufgabe der Frauen wäre. Aber ich kann auch zu Hause Gebete leiten – es ist einfach alles gleichgestellt.
Rabbinerin = Rabbiner?
Du wirst zur Rabbinerin ausgebildet: Lernst du dann auch dasselbe wie die Männer?
Braun: Ja. Wir lernen genau dasselbe. Ich lerne mit den Männern zusammen.
Und hast du während deiner Ausbildung Diskriminierung erfahren müssen?
Braun: Das gibt es schon. Auch aus anderen Denominationen. Ich habe es tatsächlich mehr von Frauen direkt erlebt, dass sie der Meinung sind, eine Frau könne keine Rabbinerin sein – es muss ein Mann sein. Diese Meinung ist für mich in Ordnung. Ich selbst wurde noch nie angegriffen oder richtig fertig gemacht. Aber klar, es wurde schon gesagt, dass das für die ein oder andere Person gar nicht ginge. Und unter im Internet veröffentlichten Interviews mit mir wimmelt es von antisemitischen und Hass-Kommentaren.
Was hat dich dazu bewegt, eine Rabbinerin zu werden?
Braun: Ein Teil davon zu sein. Ich möchte jüdisches Leben in Deutschland stärken. Teil daran zu haben, dass es jüdisches Leben weiterhin gibt und vielleicht auch wieder mehr gibt. Und die untere Generationslücke der Rabbiner:innen zu füllen, damit das Rabbinat divers mit Männern und Frauen in jedem Alter weiterhin abgebildet ist. Das andere wäre, dass ich als jüngere Person auch an jüngeren Menschen näher dran bin. Dafür habe ich schon öfter von älteren Menschen zu hören bekommen, dass mir die Lebenserfahrung fehle. Aber dafür bringe ich eine ganze Menge anderer Sachen mit: Wissen über Feminismus, Diversität, LGBTQ und Social Media.
Regenbogenfarben gibt es auch im Judentum
Wir knüpfen mal an LGBTQ und Diversität an. Du hast die Organisation „Keshet“ mitgegründet. Als außenstehende Person ist es schwer durchzublicken, wie in der jüdischen Gemeinschaft mit Homosexualität umgegangen wird. Kannst du uns einen Einblick mit dem Umgang der Community geben?
“Keshet” bedeutet Regenbogen – und so heißt auch der Verein, den Helene Shani Braun mitgegründet hat. Keshet unterstützt queere jüdische Personen und bietet einen Raum zum Austausch. Queere Menschen, z.B. homosexuelle oder trans Personen, brauchen sich dort nicht zu verstellen, können Probleme besprechen und voneinander lernen.
Braun: Die vielen Denominationen positionieren sich ganz unterschiedlich dazu. Das gibt es ganz unterschiedliche Haltungen: von Inklusion bis hin zu Ablehnung und Ausgrenzung. Traditionelle Strömungen nehmen entsprechende Zeilen in der Tora wörtlich. Oft wird zitiert: „Ein Mann soll nicht bei einem Manne schlafen, wie bei einer Frau.“ Die progressiven Strömungen versuchen diese Sätze in ihrem historischen Kontext zu verstehen und mit der Lebenswirklichkeit von queeren Menschen heute und in der Vergangenheit in Verbindung zu bringen. Ein explizites Verbot, das zwei Frauen betrifft, findet sich nicht in der hebräischen Bibel. Es gibt unterschiedliche Auslegungen und Verständnisse, was bei einem so reichhaltigen, fruchtbaren, aber auch so alten Text wenig verwunderlich ist. Wichtig ist allerdings: Alle Auslegungen sind legitim und Teil der jüdischen Pluralität.
Ist für dich Diversität und Homosexualität mit dem Judentum vereinbar?
Braun: Für mich schließt es sich nicht aus. Ich bin so aufgewachsen, dass jeder Beziehungen führen kann, wie er möchte. Und natürlich gibt es auch im traditionellen oder im orthodoxen Judentum schwule Männer. Auch schwule Rabbiner, zum Beispiel in den USA, die ganz offen damit umgehen. Da gibt es sehr spannende Artikel und Bücher. Es ist nicht so, das LGBTQ nur in der Reformewelt im Judentum auftaucht. Ich glaube, es taucht überall auf. Nur ist es vielleicht unterschiedlich schwer für die Menschen, dann damit umzugehen. Deswegen gibt es zum Beispiel diesen Verein, um zusammenzukommen. Vielleicht ist es für die ein oder andere Person nicht so einfach, alles zusammenzubringen: Sexualität, Geschlecht und Religion. Der Verein soll etwas über-denominationales sein, also für alle und nicht ein Reform-Queerer-Jüdischer Verein. Alle sollen sich in dem Verein willkommen und sicher fühlen.
Kinder und Jugendliche sind die Zukunft
Hast du ein Vorbild oder etwas, das dich inspiriert?
Braun: Vorbilder sind für mich alle Rabbinerinnen, die ich bisher kennengelernt habe. Wenn ich beobachten darf, wie sie bestimmte Dinge machen oder damit umgehen, kann ich von jeder Einzelnen etwas lernen. Inspiration und Motivation sind für mich immer Kinder. Die können einem so viel Lebensfreude und Power geben. Wenn ich zum Beispiel im Kindergarten sitze und mit ihnen den Feiertag feiere, muss ich gezwungenermaßen viele Sachen sehr, sehr einfach runterbrechen: Warum machen wir das? Warum feiern wir den Tag? Das gibt mir sehr viel. Kinder sind die Zukunft und ich möchte sie mitbegleiten.
Hast du einen Wunsch, wo du später als Rabbinerin hin willst?
Braun: Ich muss einfach schauen, was es für Möglichkeiten gibt, wenn ich fertig bin – was noch ein paar Jahre dauern wird. Es ergeben sich auch immer neue Möglichkeiten. Das lässt sich gerade schwer absehen.
Wenn du Rabbinerin bist, was würdest du anders machen, um in der Gemeinde und außerhalb Transparenz für jüdisches Leben und jüdischen Glauben zu schaffen?
Braun: Ich würde mir auf jeden Fall wünschen, dass gelebtes Judentum in Schulbüchern vorkommt. Und zwar im Religionsunterricht und nicht im Geschichtsunterricht. Im besten Fall über alle Religionen und zwar wie sie heute gelebt werden: bunt und divers. Ich glaube, das würde einen guten Grundstein legen.