Der Krieg in der Ukraine wirkt sich auf die ganze Welt aus. In der Seemannsmission Altona wohnen ukrainische Seeleute, Geflüchtete und FSJler in einem Haus. Was beschäftigt die Menschen hier? Welche Hilfsangebote gibt es und wann kommt das Team an seine Grenzen?
„Der Chef ist grad mit dem Hund draußen“, sagt eine junge Frau an der Rezeption. Ich warte in der Lobby. Überall liegen Flyer auf Deutsch, Englisch und Ukrainisch – „Vaccination – A Practical Guide“, „How to cope with stressful events“ und und und. Viel dunkles Holz mischt sich hier mit großen Fenstern Richtung Hafen. Es riecht weder muffig noch streng nach Putzmittel. Eigentlich riecht es nach gar nichts. Dann kommt Heimleiter Fiete Sturm rein. Ein mittelgroßer junger Mann mit Vollbart, Bauch und Tattoos gefolgt von einem aufgeweckten Beagle-Mischling. Die Atmosphäre ist locker, alle duzen sich. Mit klimperndem Schlüsselbund begrüßt er mich, Fiete will mir das Haus zeigen. Wir starten mit der Kirche.
Der was? „Ja, das hier wurde nachträglich ins Gebäude eingebaut. War früher ein Speisesaal und wurde dann ein Gedenkort für die Seefahrer der Pamir, die 1957 untergegangen ist.“ Die Kirche befindet sich links neben der Rezeption. Ein Raum mit modernen Fliesen und großen Fenstern. Sie ist eine von zwei Seefahrtskirchen in Deutschland. Alte Kirchenbänke und bunte Glasfenster erinnern an traditionellere Zeiten. Die Seemannsmission Altona e.V. ist eine Einrichtung der evangelischen Kirche, Heimleiter Fiete Sturm ausgebildeter Diakon.
Neben der Seemannsmission in Altona gibt es in Hamburg noch den Seemannsclub Duckdalben in Waltershof und das Seemannsheim in der Neustadt. In Altona kümmert sich das Team – normalerweise – vor allem um Seeleute aus der Frachtschifffahrt, die Besatzungswechsel machen. Immer wieder wohnen hier aber auch Geflüchtete, wie jetzt.
Alles Männer in der Seefahrt? In der Container-Schifffahrt arbeiten fast ausschließlich Männer. Auf Kreuzfahrtschiffen sind mittlerweile aber auch viele Frauen beschäftigt. “Deswegen sagen wir auch lieber Seeleute oder Seefahrer statt Seemänner”, sagt Fiete Sturm. Im Text ist von “Seemannsmission Altona” die Rede, weil die Mission 1901 unter diesem Namen gegründet wurde und heute offiziell in dem Wortlaut als Verein eingetragen ist.
Die Seemannsmission: Erfahren im Helfen
Fiete zeigt auf Kartons mit Spielzeug und Kinderkleidung links neben dem Altar. „Hier sind noch ein paar ausgelagerte Sachen. Wir hatten ein dreiviertel Jahr lang Familien von kiribatischen Seeleuten beherbergt”, sagt er. Der Pazifikstaat Kiribati hatte im Frühjahr 2021 aufgrund von Corona die Landesgrenzen auch für die eigenen Landsleute geschlossen. Viele Seefahrer und ihre Familien wohnten daraufhin in der Seemannsmission Altona.
Zurzeit sind viele Menschen aus der Ukraine da. „Kurz nach dem Ausbruch des Krieges war von heut auf morgen ‘n richtiger Schwung an ukrainischen Menschen hier im Haus, so etwa 20 Personen.“ Zur Relation: Die Seemannsmission Altona hat 38 Zimmer mit 75 Betten. „Vor allem Familien von Seeleuten. Die Männer waren unterwegs auf den Schiffen. Die Familien haben sich entweder nicht mehr sicher gefühlt oder kamen direkt aus dem Kriegsgebiet und mussten halt raus. Die Reedereien der Seeleute haben das dann organisiert.“
Fiete pfeift den Hund zu sich, der an den Kartons schnüffelt, und wir gehen ein paar Stufen runter in den Clubraum. Hier gibt es einen Bartresen aus dunklem Holz, eine Karaokemaschine und Regale voller DVDs. In der Auslage sind Krabbenchips, Schokolade und Drogerieartikel. Und wieder Flyer. Die Seemannsmission kooperiert zur Versorgung der Seeleute und Geflüchteten vor allem mit Hanseatic Help, dem FC St. Pauli und dem Hafenärztlichen Dienst.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine macht sich auch in Hamburg bemerkbar. FINK.HAMBURG hat dazu in der Serie „Ukraine in Hamburg“ Reportagen und Porträts von Betroffenen zusammengestellt. In der Schule und im Ballett, unterwegs mit einer geflüchteten Influencerin und einem Tennisprofi aus Kiew – FINK.HAMBURG zeigt unterschiedliche Herausforderungen und Perspektiven, die mit dem Krieg zusammenhängen.
“Es fühlt sich wie zu Hause an, wie an Bord”
Anthony A. A. (24) ist einer der Seeleute, die aus der Ukraine gekommen sind und gerade in der der Seemannsmission wohnen. Er ist ein schmaler junger Mann aus Nigeria, der in der Ukraine Schiffsmaschinenbau studiert hat. Das sei dort günstiger als in Nigeria und das Zertifikat anerkannter, erzählt er. „Ich lebe nicht in der Ukraine, ich bin nur zum Studieren da.“ Während des Gesprächs unterscheidet er immer wieder zwischen Ukraine und seinem Heimatland Nigeria.
Am 22. Februar kam Anthony von einer Dienstfahrt zurück und ging in der Hafenstadt Cherson von Bord, am 24. ging der Krieg los. Einen Monat hing er in der Stadt fest, während sie von russischen Truppen eingenommen wurde. Gerettet hat ihn ein Jobangebot aus Deutschland. Die Reederei organisierte Anthonys Reise nach Hamburg. Seit ein paar Wochen wartet er darauf, dass der nächste Dienst an Bord losgeht.
In einer Woche wird er in Hamburg wieder an Bord gehen. Anthony ist gerne in der Seemannsmission. “Es fühlt sich wie zu Hause an, wie an Bord. Die Zimmer sind wie Kabinen an Bord aufgebaut. Auch die Art und Weise, wie sie das Essen servieren, wie an Bord. Ich fühle mich wohl, als wäre ich auf einem Schiff. Es ist schön. Als ich diese Unterkunft erhielt, war ich dankbar dafür, ein Schiffsingenieur zu sein.” Er hofft, trotz allem nächstes Jahr mit seinem Studium fertig zu werden.
Wichtig: Flexibilität und Gesprächsangebote
Fiete ist kurz verschwunden. Als er wiederkommt, hat er eine Fritz Kola und ein Stieleis dabei. Im Aufenthaltsbereich neben der Kirche redet er über die aktuelle Situation in der Seemannsmission. Fiete war bereits 2015 privat in der Flüchtlingshilfe aktiv. Er hat in diesem Bereich schon einiges erlebt. Aber es seien immer wieder Sonderfälle. “Der eine Sohn leidet unter schwerem Autismus und dann auch noch Krieg – da wird’s dann schon ein bisschen hakelig. Wenn der zum Beispiel hier rumrennt und die Kirchenglocken anschaltet. Die Mutter ist natürlich auch überfordert damit. Wir müssen da gerade echt gucken, dass wir sehr spontan, sehr flexibel reagieren.“
Vor kurzem hat er mit einem Vater gesprochen, dessen zwölfjährige Tochter nur noch bei Licht schlafen kann. Die Russen seien Nachts mit Panzern durch den Ort gefahren und haben angefangen, auf Sachen zu schießen. Wichtig sei dann das Gesprächsangebot – und die richtige Einschätzung: Möchte da jemand gerade reden oder muss die Person erstmal abschalten und verdrängen? Falls jemand professionelle Therapie benötigt, verweist das Team an den Hafenärztlichen Dienst.
„Wir machen hier unseren ganz normalen Job“, sagt Fiete zum Schluss. Hier können Menschen durchatmen, sich sortieren, und – wie man hier sagt – „gucken, wie man den ganzen Törn weiter plant.“
Wochenendbetrieb in der Seemannsmission
An den Wochenenden ist Fiete meistens nicht da, der Betrieb geht natürlich trotzdem weiter. Dann arbeitet beispielsweise Lina Stender (19) in der Seemannsmission. Sie kommt aus einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen und ist seit Oktober 2021 einer von vier Menschen, die hier ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) absolvieren. Groß und schlank, im blauen T-Shirt mit Logo des Hauses sitzt sie vor mir und spricht mit tiefer, selbstbewusster Stimme. Kaum zu glauben, dass sie erst 19 ist. „Hier lernt man eine Welt kennen, mit der man vorher so gar nichts zu tun hatte.“
Zum FSJ gehört auch, im Haus zu wohnen. Diese Nähe helfe, Vertrauen zu den Seeleuten aufzubauen. Diese Nähe – auch und gerade jetzt während des Krieges in der Ukraine – ist nicht immer einfach. „Das ist halt schon krass, wenn dann jemand neben dir sitzt, der wirklich davon betroffen ist und du nicht nur diese Bilder im Fernsehen siehst,“ sagt Lina.
Sie erzählt von Mädchen, die mit nichts als einer Tasche vor der Tür standen. Eine niedrigschwellige Hilfe der Seemannsmission: Telefonkarten verschenken. Damit man wenigstens seine Familie erreichen kann. Manche Seeleute zeigen ihr Fotos von ihren zerstörten Häusern in der Ukraine. Ein ukrainischer Seemann und Vater will eigentlich nach Hause zu seiner Familie. Wenn er aber zurück ginge, müsse er in den Krieg ziehen. Morgen gehe es für ihn wieder an Bord.
„Man ist so hilflos, weil ich kann den Krieg nicht verhindern. Ich kann ein offenes Ohr bieten oder kann helfen, wenn es um das Impfen geht oder so. Aber ich kann nicht deren Situation ändern. Es ist hart, das aushalten zu müssen.“
„Für den Moment ist Deutschland okay“
Der Hinterhof. Vogelzwitschern und – obwohl das Gebäude direkt an einer Kopfsteinpflasterstraße liegt – erstaunlich wenig Straßenlärm. Hier sitzen Anhelina Shestopalova (20) und Vlad Sytytov (19). Beide sind aus Butscha geflohen. Sie lernten sich in Hamburg kennen und sind seit einem Monat ein Paar. Vlad ist Seefahrer in der Ausbildung und wohnt in der Mission, bis er im Sommer wieder auf Fahrt geht. Seine Familie ist noch in der Ukraine. Anhelina ist Filmstudentin und wohnt mit ihrer 84-jährigen Urgroßmutter bei einer deutschen Familie in Kuddewörde, ein kleiner Ort östlich von Hamburg. Ihre Mutter ist Richterin, lebt und arbeitet weiterhin in der Ukraine.
Wir sitzen auf Palettensofas. Rum-Cola und ukrainische Zigaretten. Zwischendrin kommen immer wieder andere Menschen in den Hinterhof, andere ukrainische Seeleute und Geflüchtete. Anhelina und Vlad grüßen alle auf ukrainisch.
“Die Seemannsmission ist ein guter Ort, um zu warten”, sagt Vlad. Man habe Gesellschaft, könne Billard spielen, zocken. Anhelina ist froh über die jungen Mitarbeiter*innen, die hier ein FSJ machen: „Sie sind so nett. Sie hören zu und sprechen mit uns über ein paar schlimme Sachen. Einmal haben sie mich sogar nach Hause gefahren, weil ich zuviel Bier getrunken hatte.“
Vlad spricht weniger als seine Freundin. Er wirkt in sich gekehrt. Dann erzählt er fassungslos von Situationen an Bord: „Es gibt Russen, die meisten tun einfach so, als gäbe es den Krieg gar nicht. Die antworten dann einfach nicht auf deine Fragen. Man kann bei sowas doch nicht neutral sein.“ Erst im Nachhinein, auf den Fotos, fällt mir auf, wie jung die beiden eigentlich sind.
„Natürlich würden wir am liebsten zurück in die Ukraine zu unseren Familien. Aber für den Moment ist Deutschland okay”, sagt Vlad.