Der Balkon als Bühne für Alltagsabsurditäten: „Balconies” prämierte auf dem Filmfest Hamburg. Warum der Film Tiefe und Leichtigkeit gleichzeitig besitzt und wie man eigentlich Balkone castet, erzählt Regisseurin Anja Gurres FINK.HAMBURG im Interview.
Von Eric Ganther und Julia Kaiser
Titelbild: Sarah Lindebner
Schon immer hat Anja Gurres der Film fasziniert. Bereits im Kindesalter schrieb sie Kurzgeschichten, drehte mit Freund*innen kleine Filme und inszenierte selbstgeschriebene Theaterstücke. Ihr erstes Drehbuch schrieb sie mit sieben Jahren: ein Skript für Harry Potter, das sie vor Warner Bros in die Kinos bringen wollte. Das hat leider nicht geklappt.
Jetzt feiert Gurres ihr Langfilmdebüt mit dem Film „Balconies”. Der Film erzählt in sechs Episoden die Geschichten von Hamburger*innen auf ihren Balkonen – mit reichlich Absurdität und Dramatik. FINK.HAMBURG spricht mit ihr im Interview darüber, wie sie auf die Idee zu dem Film kam, was sie am Filmemachen begeistert und wie wörtlich man „Low-Budget” manchmal nehmen muss.
FINK.HAMBURG: Wie sieht dein eigener Balkon zu Hause aus?
Anja Gurres: Jetzt gerade wird mein Balkon schon wieder fertig gemacht für den Winter. Er ist also nicht mehr vorzeigbar. Aber im Sommer habe ich zwei Orangenbäumchen, die auch Inspiration waren für eine der Episoden, und ein paar Blumen dort. Ich versuche immer am Anfang des Sommers viele Blumen überall hin zu pflanzen und mir ein kleines Paradies zu schaffen. Das klappt aber meistens nicht so gut, weil es zu warm ist (lacht). Und ich habe eine Hängematte. Der Balkon ist zwar nur knapp drei Quadratmeter groß, aber mit der Hägematte macht das gar nichts aus. Eine Wohnung ohne Balkon würde für mich nicht mehr infrage kommen.
Wie bist du auf die Idee für den Film „Balconies“ gekommen? Beobachtest du gerne Leute auf ihren Balkonen?
Gurres: Ich glaube, dass die Inspiration für den Film während der Pandemie zu mir kam, als ich den Balkon wieder als Raum wahrgenommen habe. Was kann darauf denn alles passieren? Was könnten dort für interessante Geschichten entstehen? Mit dieser Idee bin ich dann auf meinen Co-Autor zugegangen und hab ihn gefragt: „Was denkst du – Balkone?“ Daraufhin haben wir das Drehbuch geschrieben.
„Balconies“ ist dein erster Langfilm, den du in Eigenproduktion als Low-Budget realisiert hast. Wie kam es dazu?
Gurres: Der Film ist auf sehr ungewöhnliche Art entstanden. Ich habe mich daran erinnert, wie ich früher mit 17 Jahren Filme gemacht habe: Ich habe Freunde angerufen, eine Kamera genommen, gefilmt und geschnitten. Durch den Professionalisierungsprozess an der Filmhochschule verliert man diese Spontanität, weil man denkt, dass man mehr Dinge braucht, damit das Ganze funktioniert.
Aber dann dachte ich mir: It’s worth a try! Wenn ich das mit 17 schon hinbekommen habe, müsste ich das jetzt eigentlich auch wieder hinkriegen. Hinzu kommt jetzt, dass meine Freund*innen ausgebildete Filmschaffende in fast allen Departments sind. Ich rief also die Leute an, die ich aus der Branche kenne und sagte: „Ich habe absolut kein Geld, aber hast du Lust mitzumachen?“ Ich hatte wahnsinniges Glück: Fast alle hatten Lust auf dieses Projekt. Dass der Film jetzt im Kino läuft und auf dem Filmfest Hamburg prämiert, ist wie ein Märchen für mich.
Wie finanziert man einen Langfilm, wenn man ihn auf eigene Faust dreht?
Gurres: Als wir mit den Dreharbeiten begonnen haben, hatte ich fast kein Geld. Um das Ganze realisieren zu können, habe ich mir dann folgendes Konzept überlegt: Wir drehen drei Monate und zwischen den Drehs habe ich immer die Möglichkeit, neue Episoden vorzubereiten. Dadurch hat jedes Team-Mitglied, außer mir, maximal drei bis vier Tage gedreht. Denn ich kann ja nicht zu den Leuten sagen, dass sie 30 Tage ohne oder nur mit sehr wenig Bezahlung arbeiten sollen.
Die Schauspieler*innen waren zwar Profis, aber es kamen auch viele direkt aus der Ausbildung. Und ich wusste, dass man Schauspieler*innen frisch nach der Schule sehr gut für so ein Projekt begeistern kann.
Indem ich dann Freunden und Familie von dem Projekt erzählt habe, konnte ich noch ein bisschen Geld generieren. Außerdem habe ich eine Drehbuchförderung für ein anderes Projekt bekommen. Im Prinzip habe ich jeden Cent, den ich hatte, in diesen Film gesteckt. Der war am Ende aber auch sehr, sehr günstig. Die Kameramänner haben meistens ihre Technik selbst mitgebracht, die Editorin hat bei sich zu Hause auf ihrer Software geschnitten und wir durften bei der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg (HAW) die Tonaufnahmen machen. Dadurch haben sich viele Kosten erübrigt.
Der Film spielt auf sechs verschiedenen Hamburger Balkonen. Gab es eine Art Balkon-Casting?
Gurres: Mein Balkon hat natürlich mitgemacht. Zwei oder drei weitere Balkone habe ich über Nachbarschaftsportale gefunden, in die ich reingeschrieben habe, dass wir ein paar Tage zum Dreh vorbeikommen wollen. Und dann noch über Freunde und Freunde von Freunden. Was mich selbst sehr überrascht hat, war die positive Resonanz in den Portalen.
Wie waren die Bedingungen am Set, wenn ihr auf teilweise fremden Balkonen in fremden Wohnungen gedreht habt?
Gurres: Wenn man auf dem Balkon steht, realisiert man erst, wie klein der Raum eigentlich ist. Vor allem bei fremden Wohnungen. Die haben uns meistens noch das Zimmer vor dem Balkon gegeben und das war’s. Wir waren sehr beschränkt.
Deshalb gab es viele unterschiedliche Teams. Das Kleinste war das der Bademeister-Episode: Schauspieler, Kameramann, Ton und ich. So klein habe ich noch nie gedreht. Wir hatten aber auch Drehs mit zwölf bis 15 Personen. Tatsächlich war es das harmonischste Arbeitsklima, das ich je erleben durfte. Ich würde mit allen, die da waren, noch einmal arbeiten – ausnahmslos.
Wie hast du es geschafft, dass es nicht sechs einzelne Kurzfilme sind, sondern ein Langfilm?
Gurres: Es gibt bestimmt Leute, die den Film sehen und sagen, dass das auch eine Serie sein könnte. Aber ich habe das über die Visualität gelöst – es gibt eine Farbkorrektur, einen Stil. Außerdem zieht sich mein Regie-Stil durch den Film und vereint die Episoden.
Aber abgesehen davon, konnte jede*r seine eigene Kreativität mit einbringen. Ich finde man merkt auch, dass unterschiedliche Kameramänner am Werk waren. Nach den ersten drei oder vier Balkonen, wusste ich nicht, ob mir noch weitere spannende Perspektiven einfallen. Aber durch den Wechsel der Teams hatte ich immer jemanden dabei, für den sich der Raum neu erschlossen hat, und das war sehr erfrischend.
Wie lange habt ihr an dem Film gearbeitet?
Gurres: Die Drehbücher waren schnell innerhalb von zwei Monaten geschrieben. Gedreht haben wir 19 Tage und drei oder vier Monate haben wir geschnitten. Dann kam Colour, Ton und Musik – insgesamt hat es ein ganzes Jahr gedauert.
Hast du Vorbilder, an denen du dich filmisch orientierst?
Gurres: Nein. Ich hatte auch noch nie als Kind irgendwelche Bands, die ich besonders toll fand. Ich finde viele Filme toll, aber es ist nicht so, dass ich mich dann mit der Person identifiziere, die den Film gemacht hat. Das ist auch nicht mein Anspruch für meine Filme. Ich denke mir eher: Guckt gerne meine Filme, aber ihr müsst nicht wissen, wie ich heiße. Habt Spaß dabei, das ist mir wichtiger.
Du sagst die Leute sollen Spaß bei deinem Film haben. Wenn man sich deine Filmografie anschaut, ist dort aber viel schwere Kost zu finden. Wie kommst du zu deinen Themen?
Gurres: Ich komme immer sehr unterschiedlich auf meine Themen. Entweder handelt es sich um ein Bild oder, wie bei den Balkonen, um einen Ort, mit dem es anfängt. Ich habe festgestellt, dass es zwei Welten gibt, die ich sehr gerne betrete: eine sehr dunkle Welt und eine eher hellere. Und dass ich beide Welten brauche und beide bedienen möchte. Das heißt, wenn ich weiß, ich habe viel Komödie gemacht, dann widme ich mich als nächstes einem Projekt, das dem entgegensteht. Daher war es auch meine Motivation, nach meinem dunklen Abschlussfilm einen positiven Film zu machen. Und das habe ich bei „Balconies” in jeder Episode probiert. Das ist gerade auch der Anspruch an meine Arbeit: die Tiefe in der Leichtigkeit finden.
Wenn du keine Regisseurin wärst, was wärst du dann?
Gurres: Ich weiß es nicht. Mir fällt gar nichts ein, was ich lieber machen wollen würde.
Was bereitet dir an deinem Job am meisten Spaß?
Gurres: Wahrscheinlich die Abwechslung. Ich arbeite gerne mit Menschen. Und was ich als Regisseurin toll finde, ist, dass ich mit jedem Department völlig unterschiedliche Arten des Denkens kennenlerne. Wenn ich zum Beispiel mit der Kostüm-Crew über Farbkompositionen spreche, dann reden wir ja ganz anders als später über die gleichen Dinge mit den Leuten vom Colourgrading.
Und jedes Mal wenn ich ins Sounddesign komme, bin ich völlig fasziniert davon, was man mit Tönen machen kann, die dann unterbewusst Sachen im Zuschauer triggern, die aber niemand bewusst wahrnimmt. Es wird einfach nie langweilig. Es macht mir Spaß, die Wahrhaftigkeit in der Fiktion zu finden, glaube ich.
Sehen wir die Orangenbäume von deinem Balkon im Film?
Gurres: Also nicht den originalen Orangenbaum, wir haben zum Glück welche gesponsert bekommen. Die kamen in drei großen Paketen. Und einer von denen ist dann der Drehbaum geworden.