Raissa Necker ist Mitarbeiterin in einer Kita, sie therapiert Kinder logopädisch – jedenfalls hat sie das vor Corona gemacht. Im Lockdown sieht ihr Alltag ganz anders aus.
Raissas Blick ist wach und konzentriert. Sie sitzt im Schneidersitz, die Hände liegen locker an den Fußgelenken. Sie fühlt sich sichtlich wohl, hier in ihren eigenen vier Wänden. Und das zu Recht: Die Wohnung ist gemütlich, durch das Panoramafenster fällt viel Licht ins Zimmer. Helle Möbel, bunte Kissen und Fotos von Freunden und Familie vermitteln die gleiche Wärme und Herzlichkeit, die Raissa den Menschen in ihrem Umfeld alltäglich entgegenbringt.
FINK.HAMBURG hat 24 Menschen gefragt, wie sich ihr Leben durch die Corona-Krise verändert hat. Geführt haben wir die Gespräche via Skype, Zoom, im engsten Bekanntenkreis, denn wir mussten Abstand halten. Herausgekommen sind dennoch Nahaufnahmen von Hebammen, Lehrkräften, Krankenpfleger*innen, Studierenden. Sie zeigen, wie herausfordernd das Virus für den beruflichen und privaten Alltag ist und wie Neuanfänge gelingen.
Auf dem niedrigen Couchtisch vor ihr steht ein Teller mit zwei Scheiben eines Hefezopfes, dick mit Schokocreme bestrichen. Denn mitten im coronabedingten Lockdown hat Raissa ein neues Hobby gefunden: Sie backt. Aber das ist nicht die einzige Veränderung. Auf dem Esstisch steht neuerdings eine Nähmaschine, in einer Ecke lehnt eine brandneue Ukulele, auf der Fensterbank liegen Malbuch und Stifte bereit und daneben wartet ein orangefarbener Tuppertopf mit Tomatensetzlingen auf das nächste Sonnenbad. Raissa hat viele neue Hobbys – denn seit dem Ausbruch des Corona-Virus verbringt die Logopädin die meiste Zeit nicht wie sonst in der Kita sondern in ihren eigenen vier Wänden.
Kinder und Karriere
Schon früh, fast kann man sagen schon immer, hat Raissa eine besondere Beziehung zu Kindern: „Mit 13 habe ich zum ersten Mal babygesittet. Aber mir war schon mit fünf klar, dass ich mal eigene Kinder haben werde,“ erzählt sie so bestimmt, dass es keinen Zweifel gibt. An ihrer Einstellung hat sich auch nach 22 Jahren nichts geändert. Ihre Liebe zu Kindern spiegelt sich auch in ihrer Berufslaufbahn wider: Zunächst hat sie ihr Fachabitur mit der Ausbildung zur Sozialpädagogischen Assistentin gemacht und im Anschluss Logopädie studiert.
Nach mehreren Stationen in Hamburger Kitas startete die Logopädin Mitte Februar in einer Kita für Integrationskinder. „Das sind Kinder mit Behinderungen oder bestimmten Syndromen. Ich arbeite zum Beispiel viel mit Autisten,“ erklärt sie, und die Begeisterung in ihrer Stimme verrät, dass sie die Kinder schon ins Herz geschlossen hat. Sie hatte allerdings nur vier Wochen Zeit, ihre 17 Schützlinge kennenzulernen, denn schon einen Monat später musste die Kita als Folge der Ausbreitung des Corona-Virus schließen – und die sonst sehr engagierte Therapeutin arbeitet auf einmal „gar nicht mehr“, wie sie fast verlegen und mit einem kleinen Lachen zugibt. „Wir sollen im Homeoffice arbeiten, aber das kann ich nur bedingt – ich brauche ja die Kinder, um behandeln zu können.“
Hobbys und Homeoffice
Während des Lockdowns durch die Corona-Pandemie ist Raissa zunächst in der Kita für die Notbetreuung von Kindern mit Eltern in sogenannten systemrelevanten Berufen, wie medizinisches Personal oder Bus- und Bahnfahrer*innen, als Erzieherin eingeteilt. „Leider“, schiebt sie hinterher, denn lieber arbeitet sie als Logopädin. Es stellt sich allerdings heraus, dass sie auch erzieherisch nicht arbeiten muss: Es kommen keine Kinder in die Kita.
„Wir sind vorläufig freigestellt, müssen jedoch von sechs bis 18 Uhr auf Abruf sein, falls doch mal ein Kind kommt,“ erläutert sie die Situation. Ausgenommen von der Rufbereitschaft sind die Mitarbeiter*innen, die aufgrund ihres Alters oder einer Vorerkrankung zur Corona-Risikogruppe gehören. „Wir bekommen aber weiterhin unser volles Gehalt“, ergänzt Raissa, erleichtert, dass sie sich wenigstens um ihre finanzielle Situation vorerst keine Gedanken machen muss.
Also hat Raissa Zeit, viel Zeit. Voller Tatendrang legt sie sich die vielen neuen Hobbys zu. „Am Anfang der Corona-Krise hatte ich noch das Gefühl, ich tue was, wenn ich zu Hause bleibe, wenn ich nichts tue. Das war motivierend,“ sagt sie und deutet an, dass sie schon lange nicht mehr motiviert ist.
Mit gemischten Gefühlen zurück in die Kita
Dann erfährt Raissa, wie es nach dem Lockdown vorläufig weitergehen wird: Mit den ersten Lockerungen im Einzelhandel ändert sich auch ihr Alltag erneut. Die Notbetreuung wird erweitert, damit zum Beispiel auch Alleinerziehende ihre Kinder wieder in die Kita bringen können. Zehn Kinder sind bisher angekündigt. Raissa ist als eine von vier Erzieher*innen für zunächst drei Tage die Woche eingeteilt.
Sie ist sich nicht sicher, wie sie die Situation finden soll: „Ich habe da sehr gemischte Gefühle,“ gibt sie zu und spielt dabei gedankenverloren mit einer leeren Wasserflasche, die leise in ihren Händen knistert. „Ich werde versuchen, nicht so viel Körperkontakt zu haben, weil ich das durchaus beunruhigend finde mit den Kindern. Die haben ja oft dieses Nähe- und Distanzgefühl noch nicht.“
Auf der anderen Seite ist sie aber auch optimistisch und freut sich darauf, nach Wochen der Selbstisolation endlich wieder rauszukommen und zu arbeiten, eine Aufgabe zu haben – abseits vom Nähen, Backen und Gärtnern. Denn auf Dauer können diese Hobbys sie nicht erfüllen, so wie es ihre Arbeit mit den Kindern tut. Und werden daher jetzt erstmal wieder kürzer kommen. Schade eigentlich. Dann wird es wohl erst mal keine Hefezöpfe mehr geben.