Die Politik soll in der Corona-Krise viele Fragen beantworten. Welche Ideen hat ein Grüner junger Politiker? Leons Blick auf die Gesellschaft bleibt nachdenklich.

WLAN gibt es nicht, aber ansonsten fühlt Leon Alam sich hier oben sehr wohl. Auch wenn die Straßen schon im Schatten sind, ist es hier noch angenehm sonnig. Und wenn man sich umsieht, kann man den Alltag in Hamburg-Eimsbüttel beobachten – dem Viertel, in dem Leon vor 24 Jahren geboren wurde. Das Dach des sechsstöckigen Hauses, in dem er wohnt, ist sowas wie Leons Lebensmittelpunkt geworden. Seit das Virus ihn davon abhält auf die Straße zu gehen, sitzt er öfter auf einem Campingstuhl als auf dem Sofa oder vor dem Schreibtisch. Der Stuhl steht auf dem Dachboden des gepflegten Hauses, immer griffbereit direkt neben der Leiter.

Geschichten einer Krise
FINK.HAMBURG hat 24 Menschen gefragt, wie sich ihr Leben durch die Corona-Krise verändert hat. Geführt haben wir die Gespräche via Skype, Zoom, im engsten Bekanntenkreis, denn wir mussten Abstand halten. Herausgekommen sind dennoch Nahaufnahmen von Hebammen, Lehrkräften, Krankenpfleger*innen, Studierenden. Sie zeigen, wie herausfordernd das Virus für den beruflichen und privaten Alltag ist und wie Neuanfänge gelingen.

„Es gibt viele Tage, an denen ich nicht unterwegs bin,“ erzählt er mit einem kalten Bier in der Hand. Normalerweise ist Leon ständig unterwegs. Er macht seinen Master in Politikwissenschaft und ist Sprecher der Grünen Jugend in Hamburg. Damit ist er deren Vorstandsvorsitzender und quasi das Aushängeschild der knapp 500 Hamburger Parteimitglieder unter 28 Jahren. Genauer: Er ist Teil einer Doppelspitze, eines von zwei Aushängeschildern – Leon ist da sehr genau. Er wählt seine Worte mit Bedacht und wenn er von der Arbeit bei den Grünen erzählt, spricht er immer von „Wir“. Seine Kollegin Madeleine und er koordinieren rund 50 Aktivist*innen, tauschen sich mit Organisationen wie der Seebrücke aus und natürlich mit der eigenen Partei. Seit einem halben Jahr machen sie das gemeinsam.

Unser Gespräch ist Leons erstes richtiges Interview. Dabei wirkt er so routiniert, dass es fast schwer fällt das zu glauben. Seine Stimme klingt ruhig und bestimmt. Fast jeder Satz wirkt wie ein Appell. Mit seinen Händen unterstreicht er seine Aussagen, als wäre eine Kamera auf ihn gerichtet. Würde er währenddessen nicht reihenweise Zigaretten drehen, könnte man meinen, man sei mitten in einem Imagevideo der Grünen Jugend. Der wolkenlose Himmel, die Sonnenstrahlen in Leons Gesicht und die ausgebleichte Jeansjacke über dem rosafarbenen Sweater – das Bild ist perfekt.

Haltung zeigen in der Corona-Krise

Aber Leon tut das, was er tut, nicht für sein Image, sondern aus tiefer Überzeugung. Er ist unzufrieden. Er wünscht sich mehr Gerechtigkeit. Dass deutscher Spargel gerettet wird und Geflüchtete nicht, macht ihn wütend. Genau wie rassistische Diskriminierung: Die ständigen Fragen, woher er denn wirklich komme oder vermeintliche Komplimente für sein gutes Deutsch. Der Einzug der AfD in den Bundestag 2017 brachte das Fass zum Überlaufen. Er trat den Grünen bei.

Das Thema Rassismus, das mich schon lange auf persönlicher Ebene tangiert, hat mich auch mehr und mehr auf politischer Eben tangiert. Das Erstarken der AfD macht mir Angst auf der einen Seite und auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, dass man das nicht einfach stehenlassen kann. Sondern dass es jetzt genauso starke linke Bündnisse geben muss.

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Vor seiner Bewerbung als Sprecher im vergangenen Jahr war Leon für die Jugendarbeit zuständig. Nebenbei leitet er den grünen Arbeitskreis „Migration und Antirassismus“. Der Zeitaufwand für seinen Einsatz: 20 bis 50 Stunden die Woche. Geld bekommt er dafür nicht. Ob er das gerne beruflich machen würde? „Aus rein finanzieller Sicht rechnet sich politisches Engagement wenig“, antwortet er wie jemand, der diese Frage andauernd hört. Aber „nein“ wäre auch gelogen. Solche diplomatischen Antworten gibt er häufig.

Viel eindeutiger: Leons Einschätzung zur Corona-Krise. Dass viele die leeren Straßen romantisch finden oder den Shutdown als Neuanfang sehen, macht ihn skeptisch. Das Klima, erklärt er, profitiere zwar davon, dass große Teile der Wirtschaft, des öffentlichen Lebens und des Verkehrs gerade stillstehen, Sorgen macht er sich trotzdem. „Ich glaube, dass nach der Corona-Zeit eher gegenteilige Dynamiken entstehen und dass man sagt: Industrie und Wirtschaft first, das Klima muss erstmal hintanstehen.“ Leon sieht nachdenklich aus – dass die wachsende Solidarität in unserer Gesellschaft über die Krise hinaus bestehen bleibt, glaub er nicht.

Junge Politik klappt auch im Homeoffice

Seine Arbeitsweise bei den Grünen, glaubt er, wird sich bestimmt verändern. Manche Formate sind online sogar effektiver. Wenn er früher stundenlang in Konferenzräumen saß, sitzt er jetzt auf seinem Dach mit dem Laptop. Für die Reichweite der Grünen Jugend ist der Shutdown fast praktisch. Junge Menschen, die vor dem Virus von Schule, Uni oder Arbeit gestresst waren, haben jetzt Zeit, sich mit Politik zu beschäftigen – und wenn es nur aus Langweile ist. Leon ist da pragmatisch. Was online immer noch nicht so richtig klappt: Abhängen mit den Parteifreund*innen und politischer Protest. Wenn Leon von Demos spricht, die nicht stattfinden dürfen, obwohl die Schutzmaßnahmen eingehalten werden, klingt er vorwurfsvoll. Er sieht enttäuscht aus, obwohl die Sonnenbrille seine Augen verdeckt. Wenn er von der ausgesetzten Versammlungsfreiheit redet wird klar, dass es ihm nicht um ein paar abgesagte Demos geht. Es geht ihm um ein Grundrecht, im Kern geht es ihm – wie so oft – ums Grundsätzliche.

Dass wenige Wochen später Zehntausende Menschen gegen Rassismus auf die Straße gehen würden, war zum Zeitpunkt des Gesprächs nicht absehbar.

Titelfoto: Lorenz Jeric