Der HAW-Absolvent Jan Kamensky lässt gerne Autos davonschweben, zumindest am Bildschirm. Seine Animationen verwandeln graue Straßen in fahrradfreundliche Promenaden. Damit präsentiert er ein „Utopia for Bicyclists“, wie er sein Projekt nennt.
Es ist die exklusivste Aussicht der Stadt. Wer von der Köhlbrandbrücke auf Hamburg schauen will, braucht ein Kraftfahrzeug. Und dann muss man auch noch das Glück haben, hier oben im Stau zu stehen. Einen Fußweg oder eine Radspur gibt es nicht. Der 34-jährige Jan Kamensky möchte das ändern. Deshalb hat er eine Utopie für diesen und andere Orte entworfen: den grauen Asphalt rausreißen, die Fahrbahn begrünen und eine Promenade für Fahrräder und Fußgänger:innen schaffen.
„Wie kann ich aktiv etwas für den Wandel in meiner Stadt tun?“
Jan sitzt auf den Stufen am Altonaer Fischmarkt und schaut über die Elbe zur Köhlbrandbrücke. „Dieser weite Blick hier hat mich inspiriert“, sagt er. Auf dem Kopf trägt er eine schlichte Basecap in Blau, ganz ohne Marke oder Aufschrift. Ihr Schirm ist so weit gebogen, dass sein Gesicht immer etwas verdeckt im Schatten liegt. Er fühlt sich hier sichtbar wohl. Locker lehnt er sich zurück und hat die Schuhe ausgezogen.
Die Pandemie habe für ihn auch gute Seiten gehabt, sagt er. Die Kurzarbeit konnte er finanziell verkraften. Er nutzte die gewonnene Zeit, um auf seiner Lieblingsbank am Altonaer Balkon zu lesen.
Besonders das Buch „Utopia for Realists“ inspirierte ihn. Jan fragte sich beim Lesen immer wieder: Wie kann ich aktiv etwas für den Wandel in meiner Stadt tun? Schnell gefiel ihm der Gedanke, dafür sein Können aus Studium und Beruf zu nutzen.
Das Ergebnis: Im Juni 2020 startete er in den sozialen Medien den Kanal Utopia for Bicyclists. Es ist ein Ein-Mann-Projekt, aber geplant war das so nicht: Jan hatte auf aktive Mitstreiter:innen gehofft, aber die blieben bisher aus.
Von der „Financial Times“ zu „Viva St. Pauli“
Sein Lebenslauf bis dahin vereint auch Gegensätze. Jan studierte an der HAW Hamburg Kommunikationsdesign und hinterließ sichtbare Spuren auf dem Campus: Er gestaltete den grünen Schriftzug für das Büro des Allgemeinen Studierendenausschusses.
Sein aktuelles Projekt sei auch Kommunikationsdesign, sagt er. “Ich kommuniziere die Idee von einer gewandelten Stadt, weg von der autodominierten Stadt hin zur menschenfreundlichen Stadt.“
Noch während des Studiums fing Jan bei Gruner und Jahr an, arbeitete bis zum letzten Tag für die “Financial Times Deutschland”. Als der Verlag die Zeitung einstellte, konnte Jan bleiben.
Manches Produkt, an dem er damals arbeitete, würde er heute ablehnen: Kaum vorstellbar, aber der umweltbewusste Fahrradaktivist Jan hat mal eine Magazin-App für die Lufthansa gestaltet. Heute lehnt er das Fliegen ab und schwärmt vom Nachtzug. Bei sich zu Hause erinnert ein Zuglaufschild daran, dass er früher in Altona einsteigen und im Schlaf bis Paris durchfahren konnte.
2016 wechselte Jan zum FC St. Pauli, nicht auf den Platz, aber ins Büro. Seitdem kümmert er sich als Art Director um das Grafikdesign der Plakate, T-Shirts oder der Vereinszeitung „Viva St. Pauli“. Der FC St. Pauli ist für ihn aber viel mehr als Arbeit, denn seit zwanzig Jahren ist er Mitglied.
Utopia for Bicyclists als Lebensaufgabe
Jetzt betreibt Jan Utopia for Bicyclists neben der Arbeit: „Letztes Jahr im April saß ich mit einem guten Freund an der Elbe. Da meinte ich so: Ey, dieses Projekt, ich spüre, das ist ’ne Lebensaufgabe für mich“, sagt er.
Jans Lebensaufgabe sieht so aus, dass er in kurzen Animationsvideos Straßenansichten radikal umgestaltet. Damit will er veranschaulichen, wie die Innenstadt ohne Autos aussehen könnte. Die Videos beginnen meist mit einer chaotischen Straßenszene. Autos fahren kreuz und quer durchs Bild, hupen, stoßen dichte Abgaswolken aus.
#Flyingcarmovement: Das (weg-)fliegende Auto
Dann setzt Jan langsam mit seinen utopischen Animationen ein: Straßenschilder verformen sich zu Raketen und schießen in den Himmel. Ampelmasten flattern davon, als wären sie Vögel. Autos lösen sich sachte vom Boden und schweben wie Seifenblasen aus dem Bild.
Wegen dieser Szenen nutzt er bei Twitter und Instagram gerne den Hashtag #flyingcarmovement, auch wenn man bei der Größe nicht von Bewegung sprechen könne, wie Jan zugibt. Es ist aber eine ironische Anspielung darauf, dass Zukunftsvisionen seit Jahrzehnten das fliegende Auto versprechen. Sie sind immer verbunden mit dem Traum aller Autofahrenden, den nervigen Stau einfach überfliegen zu können.
Dieses Bild hat Jan abgeändert: Die Autos, die bei ihm abheben, kommen nie wieder zurück. Aber mit ihnen ist auch der Stau für immer verschwunden:
“Das Auto hat keine Zukunft, auch nicht das E-Auto. Wir müssen unser Leben und somit unsere Mobilität grundlegend verändern. Und dazu zählt auch zu lernen, dass es ohne Verzicht nicht gehen wird – wenn wir denn allen Menschen auf der Welt ihre Grundbedürfnisse zusprechen wollen.”
„Meine Utopie beschränkt sich überwiegend auf das Straßenleben. Die Straße von heute empfinden wir als ‘normal’, weil wir damit aufgewachsen sind und den Blick verloren haben. Ich kann über die Animation eine andere Straße sichtbar machen.“
„Streets of Corona“ als leeres Blatt für Utopien
Nachdem Jan am Bildschirm die Straße erstmal aufgeräumt hat, ist auch sein Blick geschärft: „In der Realität kommt mir der Ort der Utopie dann vor wie eine Filmkulisse. Ich kenne jedes Schild, jede Säule. Dadurch kann ich mir viel besser vorstellen, was mit diesem Platz möglich wäre“, erklärt Jan.
Die leere Szenerie als Inspiration hat er Corona zu verdanken. Der Bildband „Streets of Corona“ von Lukas Ellerbrock faszinierte Jan so sehr, dass er dessen Bild der Hoheluftchaussee ungefragt als Leinwand benutzte. Die leere Straße war für ihn ein leeres Blatt Papier für eine urbane Utopie.
Ellerbrock gefiel der fertige Entwurf und Jan durfte das Bildmaterial verwenden. Danach war Jan kaum noch zu halten. Nach und nach hat er auf der Reeperbahn, vor den Landungsbrücken oder am Schulterblatt die Autos davonschweben lassen.
Die Straßen sehen danach bei Jan meist so aus: In der Mitte fährt eine umweltfreundliche Straßenbahn, großzügige Fahrradwege ziehen sich durch das Bild. Grüner Rasen, viele Sitzbänke und spielende Kinder beleben den Platz.
Wenn Jan über den Wandel spricht, steckt manchmal mehr Diplomat als Aktivist in ihm:
„Die Qualität der Utopie ist, dass man überspitzen und radikalisieren kann. Man kann Dinge aufzeigen und Gedankenexperimente umsetzen. Ich sage nicht: Realisiert das bitte so! Stattdessen möchte ich zur Reflexion anregen: Was machen wir mit unserer Stadt?“
Platz für Wien – Jans Utopien sind international gefragt
Jan kommt mit den Animationen gut an. Viele Fahrradinitiativen nutzen seine Videos, um zu veranschaulichen, was auf den Straßen möglich wäre. Immer wieder fragen ihn Menschen an, weil sie vor ihrer Haustür auch Autos wegfliegen lassen wollen. Gemeinsam mit der Initiative Platz für Wien hat er zum Beispiel eine Utopie für die Wiener Kohlgasse entworfen.
Seine nächste Utopie spielt in Rotterdam: „Nur weil die Niederländer eine Fahrradnation sind, heißt das nicht, dass sie keine Autonation sind. Auch dort gibt es Handlungsbedarf“, sagt Jan. Er hat durch die Videos eine intensive Verbindung zu den Niederlanden aufgebaut. Marco te Brömmelstroet, Professor für urbane Mobilität an der Universität Amsterdam, verbreitet Jans Videos im Internet und trägt so zu ihrem Erfolg bei: „Dank ihm habe ich eine gewisse Reichweite“, sagt Jan.
Jede:r kann ein Utopia for Bicyclists entwerfen
Jan hat auch Spaß daran, sein Wissen weiterzugeben. In einem kostenlosen Onlinekurs für das niederländische Urban Cycling Institute erklärte er Schritt für Schritt, wie jede:r solche Utopien zuhause am Computer basteln kann. „Da waren Leute aus Neuseeland und Uruguay dabei, die sind nachts aufgestanden, um sich das live anzugucken“, erzählt Jan. Sein Ziel: Menschen weltweit inspirieren und Utopien aus allen möglichen Städten zugeschickt bekommen. Eines Tages würde Jan gern eine Ausstellung mit all seinen Utopien machen. Er ist geduldig und vertraut darauf, dass sich die Dinge im Leben schon fügen werden.
Das gilt aber nicht für den Klimawandel. Da fordert er aktives Engagement: „Entweder gestalten wir den Wandel oder er wird sowieso passieren – über die Katastrophe. Change by design, not by desaster.“
Jan schaut wieder zur Köhlbrandbrücke und resümiert zufrieden: „Das Schöne ist, dass ich mit dem, was ich gelernt habe, zum positiven Wandel beitragen kann.“
Wie dieser Wandel aussehen würde, damit man auf der Köhlbrandbücke radeln kann, seht ihr in Jans Video:
HAMBURG: THE BRIDGE from Jan Kamensky on Vimeo.