Schule, Gemeindehaus, Gotteshaus – alles Orte, an denen Menschen zusammenkommen, um gemeinsam in Frieden Zeit zu verbringen. So ist es auch in der jüdischen Gemeinde in Hamburg. Der einzige Unterschied zu den nicht-jüdischen Orten: Alle Gebäude wie die Synagoge Hamburg sind mit einem Zaun umgeben und durch einen Polizeiposten bewacht. Wie ist es, wenn solche Sicherheitskonzepte zum Alltag gehören?
von Mia Holland, Marieke Weller und Laura Wrobel
Sicherheitsdienst und Polizeischutz
Für Polizeikommissarin Sandra Schlünzen macht sich die Qualität einer Gesellschaft daran fest, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Schlünzen leitet seit 2019 das Polizeikommissariat 17 und verantwortet den Schutz jüdischer Objekte in Hamburg. In ihrem Reviergebiet befinden sich die meisten davon: die Synagoge Hohe Weide, das Chabad-Lubawitsch-Gebäude und das Joseph-Carlebach-Bildungshaus, in welchem unter anderem die jüdische Gemeinde, die Talmud-Tora-Schule und der jüdische Kindergarten zusammentreffen.
„Die Qualität einer Gesellschaft macht sich daran fest, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht.“ – Sandra Schlünzen.
Den Befehl für die Umsetzung von Sicherungsmaßnahmen gibt Schlünzen. Um bestmögliche Entscheidungen treffen zu können, greife sie mit ihrem Team auf eine „bewährte Einsatz- und Schutzkonzeption“ zurück. Ein wichtiger Aspekt sei dabei der enge Dialog mit der jüdischen Gemeinde, erklärt sie: „Es findet ein regelhafter Austausch zur Sicherheitslage und den Sicherungsmaßnahmen an den jeweiligen Objekten statt.“ Jüdische Objekte stünden unter demselben Schutz wie beispielsweise auch das türkische Konsulat oder Wohnungen einiger Politiker:innen in Hamburg. „Auch für das US-Konsulat liegt eine entsprechende Gefährdungsbewertung vor und es wird bewacht“, so Schlünzen.
Der Schutz ist erforderlich, sei aber auch gewünscht: „Fakt ist, dass die jüdische Gemeinde den Maßnahmen der Polizei sehr offengegenübersteht.“ Das erleichtert der Polizei die Arbeit. Schlünzen betont, dass ihr wichtig sei, das Leben der Jüd:innen in Hamburg durch die Maßnahmen nicht einzuschränken: „Wir schaffen einen sicheren Raum, in dem das Leben, Kommunikation und Austausch unserer jüdischen Mitmenschen stattfinden kann.“
Seitdem Schlünzen die Kommissariatsleitung im Jahr 2019 übernommen hat, gibt es zusätzliche, regelmäßige Fortbildungen, die ihrem Team die jüdische Kultur näherbringen sollen. Der hamburgische Landesrabbiner Shlomo Bistritzky und der erste Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Hamburg, Philipp Stricharz, unterstützen die Polizei dabei. „Es ist mir sehr wichtig, dass meine Kolleginnen und Kollegen ein gutes Verständnis für die jüdische Kultur haben“, erklärt Schlünzen.
Keine Auskunft – für die Sicherheit
Details zu den Sicherheitsmaßnahmen kann sie nicht verraten. Was sie FINK.HAMBURG gegenüber aber preisgeben darf, ist, dass es eine Fachdienststelle im Landeskriminalamt gibt, die regelmäßig Analysen und Gefährdungsbewertungen vornimmt. „Das gilt für gefährdete Objekte und sogenannte Gefährder.“ So können Gefahren vorab festgestellt und verhindert werden.
Dass eine so intensive Bewachung jüdischer Objekte zukünftig nicht mehr notwendig ist, kann sich Schlünzen nicht vorstellen. Sie wünscht sich Frieden in Israel und auch in Europa. Doch „wenn das nicht möglich ist, werden wir dafür sorgen, dass die Sicherheit für unsere jüdischen Mitbürger in Hamburg gewährleistet wird“.
Trotz der intensiven Schutzmaßnahmen der Polizei verfügt die jüdische Gemeinde zusätzlich über ihren eigenen Sicherheitsdienst. Laut David Rubinstein, Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde in Hamburg, sei hier der Vorteil, dass den Sicherheitsleuten die Gesichter der Gemeindemitglieder bekannt sind und sie sich untereinander kennen. Das könne in kritischen Situationen hilfreich sein.
“Es ist mein persönlicher Wunsch, dass der Zugang zur Synagoge Hamburg frei ist”
Im Hamburger Westen, am Rand von Eimsbüttel, befindet sich eine der wichtigsten Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde Hamburg: die Synagoge Hohe Weide. Die Besucher:innen der Synagoge werden unter bestimmten Sicherheitsvorkehrungen empfangen. Dazu gehören das Polizeihäuschen, Straßenabsperrungen, der Zaun um das Grundstück und die private Sicherheitseinheit des Gotteshauses. Mehrere Polizist:innen patrouillieren rund um den abgesperrten Bereich. Die Synagoge steht 24 Stunden unter Polizeischutz. “Es gibt den öffentlichen Schutz und wir haben auch unseren privaten Schutz, mehr können wir aber nicht dazu sagen”, erklärt Rubinstein. Detaillierten Informationen über das Sicherheitskonzept sollen nicht nach außen dringen.
Die Schutzmaßnahmen gehören dazu – seit 1960. “Die Poller waren damals noch nicht da, die kamen erst später dazu, davor war die Zufahrt noch möglich. Aber es stand schon immer ein Polizeiauto da”, erzählt Rubinstein.
Trotz Polizeischutz: Angriff auf jüdischen Studenten
Dass die Vorkehrungen antisemitische Gewalt nicht immer abhalten können, zeigte der Angriff im vergangenen Jahr. Am 4. Oktober wurde ein jüdischer Student bei dem Versuch, das Grundstück der Synagoge zu betreten, von einem Angreifer mit einem Spaten am Kopf schwer verletzt. Hätte die anwesende Polizei den Angriff nicht verhindern müssen? Rubinstein will keine Schuld zuweisen: “Ich möchte da auch niemandem einen Vorwurf machen und sagen, dass da doch jemand aufpassen muss.” Die Gemeinde habe den Vorfall dennoch intern aufgearbeitet und ihren eigenen Sicherheitsdienst weiterentwickelt.
Weniger Besucher:innen habe die Synagoge seit dem Angriff nicht gehabt, so Rubinstein. Die Gefahr, dass so etwas wieder passieren könnte, gehöre mit dazu. Sie sei ein normaler Teil eines jüdischen Lebens. “Ich werde auch häufig gefragt, ob ich nicht Angst hätte, wenn ich meine Kinder jeden Tag in die jüdische Schule bringe und die Polizei mit den Automatikgewehren davor stehen. Ich sage dann meistens, dass die kleinen Kinder das umgekehrt ziemlich cool finden, denn andere Schulen haben das nicht.”
Alles unter einem Dach: Schule, Kindergarten und Gemeinde
Auch Liat Golan hat ihren Sohn auf die jüdische Talmud-Tora-Schule geschickt. Sie sagt, sie habe ihm ersparen wollen, was sie selbst in ihrer Schulzeit an einer nicht-jüdischen Schule erlebt hat.
Liat Golan ist froh, dass ihr Sohn Yaniv auf eine jüdische Schule gehen kann.
Golan ist in Israel geboren und in Deutschland in einer Kleinstadt zwischen Hannover und Bielefeld aufgewachsen. Sie ist froh, dass sie ihren Sohn Yaniv in Hamburg auf eine jüdische Schule schicken kann. “Wenn ich schon in Deutschland lebe, möchte ich, dass es für meinen Sohn das Normalste ist, jüdisch zu sein, ohne dass er das hinterfragen muss: ‘Warum gucken die mich jetzt alle so komisch an?’ Oder: ‘Warum hinterfragen die das jetzt ganz, ganz komisch?’”.
Schüler:innen als Botschafter der jüdischen Kultur
Seit seinem zweiten Lebensjahr wird Yaniv tagsüber unter einem Dach geschult und geschützt: Im Joseph-Carlebach-Bildungshaus. Erst ging er hier in den jüdischen Kindergarten und wurde daraufhin als eines der ersten Kinder in der Talmud-Tora-Schule eingeschult. Mittlerweile gehen dort jeden Tag etwa 260 Kinder ein und aus. Im Gegensatz zu anderen Hamburger Schulen verfolge die Privatschule im Religionsunterricht einen jüdischen Lehrplan und ab der ersten Klasse werde hebräisch gelehrt, so Schulleiterin Franziska von Maltzahn. “Ansonsten sind wir zu 90 Prozent wie jede andere Grundschule und Stadtteilschule”, so von Maltzahn, die selber nicht-jüdisch ist.
Das Judentum spielt an der Schule eine wichtige Rolle. Trotzdem gehen nicht nur jüdische Schüler:innen dorthin. Nur etwas mehr als die Hälfte der Kinder seien jüdisch. Franziska von Maltzahn sieht darin einen großen Vorteil, “weil die jüdischen Kinder auf der einen Seite hier ihr Forum haben, ihre Feiertage leben können, ohne dass sie sozusagen andersartig sind. Und die nicht-jüdischen Kinder lernen hier ganz anders über das Judentum und sie lernen das lebendige Judentum kennen, im Gegensatz zu dem, was sie an einer staatlichen Schule lernen würden”.
“Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der jüdischen Gemeinde hat immer gesagt, das sind alles Botschafter für das Judentum.” – Franziska von Maltzahn.
Jüdisch und nicht-jüdisch, groß und klein: Das Bildungshaus bringt alle unter einem Dach zusammen. Selten wechseln die Kinder, die hier im Kindergarten waren, auf eine andere Schule. “Mein Kind ist eigentlich das typische Beispiel dafür, wie das Bildungshaus sein soll. Und zwar vom Kindergarten bis zum Abitur. Dieses Schuljahr macht er sein Abi,” erzählt Golan.
Talmud-Tora-Schule: Die sicherste Schule Hamburgs
Heute geht Yaniv in die zwölfte Klasse der Talmud-Tora-Schule. Der 18-Jährige erzählt, dass er sich hier sehr sicher fühle. Für ihn sei es ganz normal, von Sicherheitsbeamt:innen und einem besonderen Sicherheitskonzept umgeben zu sein. Mehr noch: ein Privileg. „Hier habe ich die Sicherheit als jüdische Person. Hier kann ich mich frei ausleben, was ich woanders nicht machen kann. Ich bin sehr froh, hier zu sein“, sagt er. Auf einer anderen Schule würde er sich „wahrscheinlich etwas anders fühlen“.
Da Yanivs Mutter Schulsekretärin ist, ist das Thema Schutz und Sicherheit an der Schule für ihn sehr vertraut. Golan übernimmt an vielen Stellen die Planung und ist in die Organisation der Schule eingebunden. Demnach bekäme Yaniv auch zu Hause so einiges mit. Die Sicherheit durch die Polizei sei einer der Vorteile der privaten Talmud-Tora-Schule, wie Golan betont. “Es ist auf jeden Fall eine Beruhigung für mich, wenn ich so mitkriege, in was für einer Zeit die Kinder heute groß werden.”
Wenn Polizeischutz Normalität ist
Von außen ist offensichtlich erkennbar, dass die Schule geschützt wird: Der hohe Zaun, der Polizeiposten, mit Maschinengewehren patrouillierende Polizist:innen und die Sicherheitsschleuse direkt hinter der Eingangstür sind nicht zu übersehen. “Leider ist das notwendig”, erklärt Schulleiterin von Maltzahn. Welche Sicherheitsmaßnahmen im Einzelnen ergriffen und täglich gelebt werden, dazu könne sie aber keine Auskunft geben. Selbstverständlich werde das Personal auch an der Talmud-Tora-Schule für Notfälle geschult – so wie es an anderen Schulen auch der Fall sei.
Bildungshaus-Leiterin Franziska von Maltzahn über die Sicherheit der Schule
Lernen hinter einem Schutzwall – können die Kinder damit umgehen? “Für jüdische Kinder ist das leider sowieso normal, weil sie solche Sicherheitsvorkehrungen aus ihrem Leben kennen. Für nicht-jüdische Familien ist es manchmal zuerst ein bisschen komisch, aber die Kinder merken das meist nach einer Woche schon nicht mehr”, so von Maltzahn.
Mögliche Gefahren sind den Schüler:innen der Talmud-Tora-Schule sehr wohl bewusst. „Natürlich werden wir alle informiert und wir wissen alle, was abgeht und wir wissen auch alle, dass wir aufpassen müssen“, betont Yaniv. Das Gelände dürfen die Schüler:innen ab der 11. Klasse in der Pause verlassen. Als der Konflikt zwischen Israel und der Terroreinheit Hamas sich zuspitzte, reagierte die Schule mit verschärften Sicherheitsmaßnahmen. In der Zeit durften auch die älteren Schüler:innen nicht auf die andere Seite der Absperrung. Auch im Jahr 2020 – nach dem Anschlag auf die Hamburger Synagoge – soll die Alarmbereitschaft erhöht gewesen sein. „Aber akut haben wir Schüler glücklicherweise noch nie so etwas miterleben müssen“, erzählt Yaniv.
Yaniv Golan, 18-jähriger Schüler der Talmud-Tora-Schule
Für Yaniv ist es normal, dass es für ihn oft gefährlicher ist als für seine nicht-jüdischen Freunde: „Es ist kein Gefühl, das mir fremd ist.” Er wisse, dass immer etwas passieren könnte. “Weil ich der bin, der ich bin“, sagt Yaniv.
Jüdischsein – “Ich bin stolz darauf”
Neben der Sicherheit gehört auch das familiäre Umfeld der Talmud-Tora-Schule zu den Vorteilen, das eigene Kind auf die jüdische Schule zu schicken, so Golan. Sie kennt den Namen aller 260 Schüler:innen. Und auch die ihrer Eltern. Alles sei sehr familiär. Die Kinder würden anders aufwachsen als an einer großen Schule mit über 1000 Kindern.
Ghetto bezeichnet einen Stadtteil, in dem alle Jüd:innen ihren Wohnsitz einnehmen mussten und Christen nicht wohnen durften. Der Begriff leitet sich von dem Namen des den Jüd:innen 1516 zugewiesenen Wohnbezirks in Venedig ab (Ghetto nuovo = neue Gießerei).
Während des Zweiten Weltkrieges wurden im Zuge der antijüdischen Maßnahmen der deutschen Besatzer in Osteuropa neue jüdische Ghettos eingerichtet, die eine wichtige Vorstufe für die systematische Ermordung der europäischen Jüd:innen bildeten.
Quelle: Themenheft “Jüdisches Leben in Deutschland; Bundeszentrale für politische Bildung”, 2010
In ihrem Freundes- und Bekanntenkreis sei Golan mit der Entscheidung, Yaniv auf die jüdische Schule zu schicken, teilweise auf Unverständnis gestoßen. Sie habe mit Kommentaren umgehen müssen, die sie in eine Position der Rechtfertigung drängten. Sie fühlte sich zunehmend unwohl. “Ich hab mich dann immer mehr zurückgezogen”, sagt Liat Golan. Dann beschloss sie mit ihrem Sohn ins Grindelviertel zu ziehen. “Wir leben jetzt seit über sechs Jahren hier in der Gegend und fühlen uns hier wohl”, sagt sie. Und weiter: “Es hört sich wirklich total bescheuert an, aber es ist dieses Ghetto-Dasein.”
Auch Yaniv ist sehr offen, wenn es um seine Herkunft, seinen Glauben und seine Zugehörigkeit geht. In seinem Freundeskreis sei das aber nur selten ein Thema. Viele wüssten wohl, wie sie damit umgehen müssen. Gibt es Fragen, reagiert Yaniv aufgeschlossen: „Klar, die Leute kennen nicht viele Juden. Ich höre oft, dass ich der erste Jude bin, dem sie begegnen.”
Schulsekretärin und Mutter von Yaniv: Liat Golan über “ihr Ghetto”
Ein Schutzraum für Herkunft und Identität
Mit Antisemitismus musste der 18-Jährige auch schon Erfahrung machen und er ist sich sicher, dass er auch in Zukunft damit konfrontiert wird, aber in Hamburg fühle er sich momentan wohl. Den Großteil der Menschen hier empfinde er als „sehr cool“.
Auf die Frage, ob der Schutzraum ihres Hamburger Umfelds Liat Golan einengen würde oder eher befreit, antwortet sie: “Also für mich ist das eher ein Stück zu Hause. Was ich sonst nie irgendwie je gehabt habe.” Ihr sei es ganz egal, woher irgendjemand komme. “Solange ich so akzeptiert werde, wie ich bin. Genau das tue ich auch anderen gegenüber.”
Nächstes Jahr macht Yaniv sein Abitur. Pläne für danach hat er auch schon. Seit Längerem spiele er mit dem Gedanken, zurück nach Israel zu gehen. Dort möchte er in die Armee eintreten. Yaniv besitzt beide Staatsangehörigkeiten, worauf er sehr stolz ist. „Wenn alles klappt, werde ich dann in die Armee gehen, wie jeder normale israelische Staatsbürger”, sagt er. Was ihn dort erwarte, wisse er nicht. “Aber das ist der Weg, den ich gehen möchte.“