Same Day Delivery oder Paketstation: Liefern lassen war noch nie so einfach. Gleichzeitig sind Kurierfahrer die Tagelöhner des 21. Jahrhunderts. Welchen Preis eine kostenlose Lieferung wirklich hat, erzählt Ken Loach’s Sozialdrama „Sorry We Missed You“.
“You don’t get hired, you get on board”, erkärt Maloney, der Manager des fiktiven Kurierdiensts PDF (Parcels Delivered Fast), Standort Newcastle. Ihm gegenüber sitzt Ricky Turner: Familienvater und nun selbständiger Kurier mit einem Null-Stunden-Vertrag. Um “on board” zu kommen, tauscht er kurzerhand das Auto seiner Frau Abby gegen einen weißen Transporter und seine Selbstbestimmung gegen einen schrill piependen Scanner, der jeden seiner Schritte überwacht.
Zweimal gewann Ken Loach schon die Goldene Palme, zuletzt 2016 mit „I, Daniel Blake“. Thematisch schließt der Regisseur mit seinem Sozialdrama „Sorry We Missed You“ an seinen letzten Film an. Ein weiteres Mal beschäftigt sich der Brite mit den gefährlichen Löchern im politischen System seines Landes.
In einer Lagerhalle werden laut ratternde, mannshohe Wägen voller Pakete eilig hin und her geschoben. In kurzen Abstanden ertönt das nervige Piepen der Scanner, die jedes Paket erfassen, bevor es in einen der Vans geladen wird. Maloney (Ross Brewster) ruft ein paar Mal “Let’s Go!”. Die Fahrer sortieren die Pakete nach ihren zugeteilten Routen in ihrem Van.
Der Scanner – von den Kurieren auch nur “The Gun” genannt – überwacht nicht nur die Arbeitszeiten, sondern über einen GPS-Tracker auch die Pausenzeiten der Fahrer und die Ankunft aller Pakete. Von wegen Selbstständigkeit: Schnell wird klar, dass Ricky’s Arbeitsvertrag ihm alles andere als Freiheiten ermöglicht. Auch seine Ehefrau Abbie (Debbie Honeywood) kämpft mit langen Schichten und unmöglichen Zeitfenstern. Die Krankenpflegerin fühlt sich trotz unbezahlter Überstunden für ihre Patienten verantwortlich, die viel mehr Fürsorge benötigen, als sie ihnen in der Arbeitszeit geben kann.
“Ich will nur, dass alles so wird wie früher”
Das Paar ist auf der Leinwand hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, für die Familie da zu sein und dem Ziel, seine Schulden abzubauen. Das Familienleben fehlt auch Sohn Seb (Thys Stone) und seiner kleinen Schwester Liza Jane (Katie Proctor), die beide auf ihre Weise auf sich aufmerksam machen wollen. “Ich will nur, dass alles so wird wie früher,” sagt Seb zu seinem Vater, durch das Fahrerfenster seines Vans.
2014 gingen Statistiker laut der “FAZ” von etwa 1,4 Millionen sogenannten Zero-Hours Contracts im Vereinigten Königreich aus. 2019 waren es laut “The Guardian” etwa 4,7 Millionen. Das Arbeitsverhältnis, dass keine gesundheitliche Dienstleistungen oder feste Arbeitszeiten bietet, ist in Deutschland nicht zulässig.
Auch Don Lane, kein Protagonist des Films, sondern real existierend, arbeitete im Rahmen eines Null-Stunden-Vertrags als Fahrer beim Kurierdienst DPD in Großbritannien. Don wurde dafür bestraft, Zeitfenster nicht einhalten zu können und versuchte, die drohenden Geldstrafen durch mehr Arbeit zu vermeiden. Ein Teufelskreis. Er starb im Januar 2018 im Alter von 53 Jahren – trotz Krankheit hatte er die Weihnachtszeit durchgeschuftet. Auch seine Geschichte wollte Screenwriter Paul Laverty durch seinen Protagonisten Ricky erzählen.
In Rickys Van könnte auch unser Paket liegen
Dabei sind die Geschehnisse im Film längst nicht so dramatisch wie das Leben von Don Lane. Ken Loach’s Ziel war es vielmehr, den Missstand des Systems aufzuzeigen: Die Isolation, die niedrigen Gehälter und die sogenannte Selbstständigkeit seien nicht das Versagen des Systems, stattdessen funktioniere das System so wie es sollte, so Loach zum “Guardian“. Dass Unternehmen Arbeitskräfte anheuern und entlassen können, ohne für sie verantwortlich zu sein, müsse sich ändern. Die Bilder, die Ken Loach kreiert, unterstreichen das.
Während des gesamten Films fühlt man sich ertappt. In Rickys Van könnte auch ein Paket für uns liegen, auf das wir ungeduldig warten. Das Kaufverhalten in der digitalen Dienstleistungsgesellschaft feuert Onlinehändler schließlich an, noch schneller und günstiger zu liefern. Laut Statista gaben bei einer Umfrage zu Online-Bestellungen 2017 über 77 Prozent der Befragten in Deutschland an, dass ihnen eine Zustellung in zwei bis drei Werktagen wichtig bis sehr wichtig ist. Um das zu bewerkstelligen, beuten die Händler Kuriere wie Ricky aus. Ein Brexit dürfte die besonders schlechte arbeitsrechtliche Situation in Großbritannien nicht besser machen.
„Sorry We Missed You“ wird im Rahmen des Filmfest Hamburg 2019 am 5. Oktober im CinemaxX als Abschlussfilm gezeigt.