Zwei Frauen. Zwei Anklagen wegen sexueller Belästigung. Zwei Männer, die jeden Vorwurf abstreiten. Eine Anwältin. Im ZDF-Drama “Wahrheit oder Lüge” sucht Annabelle Martinelli nach der Wahrheit.
Anwältin Annabelle Martinelli (Natalia Wörner) ist auf Sexualstrafrecht spezialisiert. Trotz #MeToo-Bewegung vertritt sie vorrangig Männer – auch wenn diese schuldig sind. Und das ziemlich erfolgreich. Als einzige weibliche Anwältin in einer Berliner Kanzlei ist sie von dominanten Kollegen umgeben. Mit einem dieser Männer, ihrem Chef, hat sie eine Affäre. Er ist verheiratet und hat Kinder. Das ist alles, was man über die Hauptfigur des ZDF-Dramas “Wahrheit oder Lüge” von Lars Becker erfährt.
Wer sagt die Wahrheit?
“Ich verteidige Sie auch, wenn Sie schuldig sind, aber ich muss die Wahrheit wissen”, sagt Martinelli zu ihrem neuen Mandanten, dem erfolgreichen Rapper Momo (Lefaza Jovete Klinsmann). Dieser streitet ab, seine langjährige Freundin Donna (Almila Bagriacik) vergewaltigt zu haben und behauptet, sie wolle sich an ihm rächen. Doch Donna war bereits beim Arzt und zeigt ihn an.
Gleichzeitig braucht Martinellis Chef und Affäre John Quante (Fritz Karl) sie bei einem anderen Fall: Der hochkarätige Mandant Mike Petry (Felix Klare) soll auf einem Internet-Kongress seine Assistentin sexuell belästigt haben. Bei der Assistentin handelt es sich ausgerechnet um Martinellis Freundin Mirella Hayek. Zwei Vergewaltigungsvorwürfe und zwei Mandanten, die ihre Unschuld beteuern. Wem kann Martinelli glauben?
“Ja gut, scheiße, ich habe gelogen. Okay, er hat mich nicht vergewaltigt. Na und? Er hat trotzdem Scheiße gebaut”
Die Frau-zu-Frau-Version
Wann ist eine Frau glaubwürdig? Ist eine Frau, die direkt zur Polizei geht, glaubhafter? Wieso denken Frauen, dass andere Frauen ihnen eher glauben? Diese und weitere Fragen werden im Verlauf des Films gestellt. Nicht nur weil das vermeintliche Opfer ihre Freundin ist, sondern “schon allein aus Frauensolidarität solltest du dich anders verhalten”, mahnt eine Freundin. Im Film erfährt Martinelli die “Frau-zu-Frau-Version”, die Männer so nicht zu hören bekommen. Später stellt sich heraus, dass diese eine Lüge ist.
Vergiss die Wahrheit
Wahrheit oder Lüge? In Zeiten von #MeToo hätte “das Opfer einen klaren Vorteil, besonders wenn es eine Frau ist”, erklärt Chef Quante seinem Mandanten und Freund Petry. “Das ist kein gutes Jahrzehnt für Männer.” Im Film solidarisieren sich Männern mit Männern. Egal ob einer von ihnen schuldig oder unschuldig ist. Diese Solidarisierung steht im Gegensatz zu der hinterfragenden Art der Anwältin, die den Beschuldigungen auf dem Grund geht und das Recht nicht biegt: “Das Recht das Stärkeren ist nicht das Recht des Besseren.”
Wahrheit oder Lüge?
Der Filmtitel ist der rote Faden, der den Film durchzieht. Wahrheit oder Lüge, fragt man sich gemeinsam mit Martinelli. Wer ist glaubwürdig, wer unglaubwürdig, was ist wahr und wer lügt? Der Film ist spannend erzählt und keineswegs vorhersehbar. Auch die Auflösung ist unkonventionell. Lars Becker agiert in dem Film sowohl als Drehbuchautor, als auch als Produzent, und seine fast schon kriminologische Erzählweise überzeugt.
Allerdings lässt “Wahrheit oder Lüge” etliche Geschlechterklischees einfach stehen, ohne sie zu hinterfragen: “Männer wissen manchmal nicht, wann sie aufhören sollen.” Bis auf die Protagonistin werden auch die Figuren stereotypisch dargestellt und die weibliche Sicht konkurriert mit der männlichen. Die gewählten Namen Mirella Hayek, Annabelle Martinelli, Donna Labaki, Mike Petry, John Quante unterstützen die geringe Tiefe der Charaktere.
Weiterhin wird angerissen, dass sich mit frauenfeindlichen Liedern mehr Geld verdienen lässt. Das “Rapper-Image” – mitsamt Vorstrafenregister und sexistischen Texten – begründet den Erfolg des Gangsta-Rappers Momo. Wieso sich Musik durch Sexismus besser verkaufen lässt, wird allerdings nicht erklärt. Und auch die Debatte um Rassismus und Diskriminierung wird eher nebenbei geführt. Der Film regt zum Nachdenken an, aber hinterlässt auch einige Fragezeichen. Die zentrale Frage, ob sexueller Missbrauch und falsche Beschuldigungen immer noch salonfähig sind, wird nicht beantwortet.
Regisseur und Drehbuchautor Lars Becker ist am Hamburger Filmfest gleich mit zwei Filmen vertreten: Eine neue Folge “Cash & Carry” aus seiner selbstverfassten Kultreihe “Nachtschicht” wird ebenfalls gezeigt. Seit 2003 ist er regelmäßig zu Gast beim Filmfest Hamburg.
Ein Startdatum für den ZDF-Film ist noch nicht bekannt.